Der Kaufmann

Es ist in anderem Zusammenhang schon gesagt worden, dass der kaufmännische Sinn bei Eberhard Friedrich nur sehr kümmerlich entwickelt war. Das trat auf mancherlei Weise in Erscheinung und drohte gelegentlich trotz aller sonstigen hervorragenden Leistungen des Mannes, den Bestand des ganzen Unternehmens zu gefährden. Mag der Mangel an kaufmännischer Begabung auch nur als der tiefe Schatten eines sonst hellstrahlenden Lichtes gesehen werden, so wäre das Bild doch unvollständig, wenn man davon einfach schweigen würde. Es war zudem gerade in Württemberg in damaliger Zeit kein ganz vereinzelter Vorgang, dass an sich große und wertvolle Ideen nicht zu der bestmöglichen Entfaltung kamen, weil der hochfliegende Idealismus nicht rechtzeitig von einer entsprechenden kaufmännischen Nüchternheit kontrolliert wurde. Das sinnfälligste Beispiel war der von 1809 bis 1857 lebende Gustav Werner, der Gründer der Reutlinger Anstalten zum Bruderhaus. Über ihn und seine Haltung hat der damalige Staatskommissar, der die Anstalten prüfen musste, um Vorschläge für eine staatliche Hilfe zu machen, die berühmte Äußerung getan, dass auch das größte Gottvertrauen eine geordnete Buchführung nicht ersetzen könne.
Den hervorragenden Leistungen Eberhard Friedrichs geschieht kein Abbruch, wenn man zu einem ähnlichen Urteil auch bei ihm kommt. Mit welcher finanziellerer Harmlosigkeit nahm er seinen ersten Teilhaber Heinrich Spaich in sein Geschäft herein! Er hatte dabei weder seine eigene finanzielle noch seine — weit höher zu bewertende — ideelle Vorausleistung auch nur annähernd kaufmännisch veranschlagt, sondern einfach so getan, als ob da zwei vollkommen gleichwertige wirtschaftliche Persönlichkeiten sich zu gemeinsamer Auswertung des angetretenen Unternehmens verbunden hätten. Man kann für den Anfang mit einer leichten Übertreibung fast sagen, Spaich war Teilhaber nur bei der Verteilung des Gewinnes, das Risiko des Betriebes trug Eberhard Friedrich allein. Das hat sich zwar im Laufe der Zeit merkbar geändert, einmal durch unbestrittene Verdienste Spaichs in bezug auf seine Leistung, den Einsatz seiner Walcker geschickt ergänzenden Anlagen, und dann auch infolge verschiedentlicher Änderung der Gesellschaftsverträge sowohl mit Spaich allein wie bei der Gründung der Firma Eberhard Friedrich Walcker & Cie. und dann noch einmal beim Eintritt Karl Walckers. Lange hatte Eberhard Friedrich in der Firma nicht die Stellung, die ihm zukam.
Das Gefährlichste aber war, dass überhaupt keine richtige kaufmännische Ordnung im Betrieb war und dass man sich vor dem Eintritt Karls in die Firma gar nie richtig Rechenschaft darüber gab, ob und wie hoch das Unternehmen sich nach kaufmännischer Rechnung rentiere. Wenn es eben wieder einmal am Geld fehlte, dann suchte man eine neue Kreditquelle. Der Enkel Eberhard Friedrichs, Dr. Oscar Walcker, berichtet in seinem „Beitrag zur Familienchronik" u. a.: „Wenn ich die alten Geschäftsbücher durchblättere, stoße ich im Jahre 1869 zum erstenmal auf die Hand Karl Walckers. Zum Abschluss des 28. Inventariums sind von ihm zum Schluss drei Zeilen eingefügt, die lauten:
Handwerkszeug 8811.45 Gulden Materialien 41701.05 Gulden Total 50512.50 Gulden
Über die Guthaben der Teilhaber verlautet nichts. Mit großer Genauigkeit ist aber alles verzeichnet, jeder Staubbesen, ein altes Orgelbaumesser, sogar eine Lampe für drei Kreuzer findet sich in dem Inventarium. Karl versucht nun, am l. Januar 1869 eine Rekapitulation des Inventariums pro 31. Dezember 1868 bilanzmäßig zu erfassen. Eine zweistöckige Scheune mit 2300 Gulden ist der einzige Posten in den Immobilien. Die Gebäude im Osten gehörten Eberhard Friedrich, der Bau im Westen Heinrich Spaich. Die Passiven weisen 20133 Gulden Anleihen und 21673 Gulden Warenschulden auf. Das aktive Vermögen betrug 13 228 Gulden. Karl Walcker nimmt sich auch der Bilanz vom 31. Dezember 1869 an. Das Kapital war gleichgeblieben, 2°/o wurden an Waren und Geräten abgeschrieben, es ergab sich ein Gewinn von 241 Gulden. Der kaufmännische Einfluss Karl Walckers macht sich sichtbar geltend. Die Bilanzen von 1870 und 1871 weisen je einen Gewinn von 8526 Gulden auf. Es war die letzte, die Eberhard Friedrich unterschrieben hat."
Man liest das nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit, zumal wenn man noch einen Satz aus derselben Quelle hinzunimmt: „Wenn Karl damals nicht rücksichtslos durchgegriffen hätte, wäre es sicher um das Weiterbestehen der Firma geschehen gewesen." Es hatte sich bei diesem vollständigen Fehlen jeglicher kaufmännischer Rechenschaft und Kontrolle naturgemäß eine gewisse Sorglosigkeit im ganzen geschäftlichen Gebaren und auch in der Arbeitsweise eingeschlichen, die ihre unangenehmen Folgen hatte. Der Begriff „Zeit" spielte ebenso wie der Begriff „Geld" nur eine untergeordnete Rolle. Von letzterem war offenbar, auch rein geschäftlich gesehen, im Verhältnis zum Wachstum des Betriebes immer zu wenig vorhanden. So fehlte es oft rechtzeitig am Material und an den Arbeitskräften, man musste bei beiden häufig zwei Löcher aufreißen, um eines zu decken, was zu sehr unguten Auseinandersetzungen, zu schleppenden Geschäften und Abrechnungen, ja sogar mehrfach zu Prozessen führte.
Beherrschend war dagegen der Begriff „Qualität". Hier wurden höchste Anforderungen gestellt und erfüllt, von der Leitung und von den Gesellen ebenso wie von den künstlerischen Hilfskräften. Diesem großen Vorrat an Vertrauen in die Leistung der Firma ist es mit zu danken, dass immer wieder neue Kreditquellen sich öffneten und immer neue, mitunter auch sehr gut bezahlte Aufträge hereinkamen. Es waren aber doch zuviel regelrechte Verlustgeschäfte, so dass allmählich auch das doch in erster Linie moralische Konto des Vertrauens in höchster Gefahr war, überzogen zu sein. Seine Tragkraft war aber immerhin noch stark genug, um der dritten Generation, der nun das Werk der Dynastie Walcker zu treuen Händen übergeben werden sollte, Zeit zu lassen, sich auf die Forderungen einer neuen Zeit an den überkommenden Auftrag einzurichten.

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