Quoika 'Walcker und die Orgel des 19.Jh'

Walcker und die Orgel des 19. Jahrhunderts
Ein Kapitel Stilgeschichte
von Rudolf Quoika, Freising/Obb.

Von der Orgel des 19. Jahrhunderts zu sprechen, scheint nicht zeitgemäß zu sein, denn andere Probleme der Orgelbaukunst rufen nach Lösungen; oftmals sind es auch naheliegende Ressentiments, die darauf hinzielen, gerade dieses Zeitalter aus der Orgelbaugeschichte auszuschlie8en und für den Niedergang der Orgelbaukunst verantwortlich zu machen. Allerdings wird der Historiker zu anderen Urteilen kommen, wenn er feinfühlig und gerecht der Materie gegenüber tritt und den Versuch macht, einmal Nachschau zu halten, Gutes und Schlechtes, Fehlerhaftes und Falsches zu ermitteln und einzuordnen in den gro8en Geistesbau des Jahrhunderts Überhaupt, dessen Grundlagen wir zu kennen glauben, indes mehr als Finsternis gerade über diese Zusammenhange gebreitet ist.

Wer es unternimmt, die Orgelbaugeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben, wird den Versuch wagen miissen, eine gewisse, vorbelastete Kritik zu überprüfen und auch die Zäsuren neu zu setzen; dabei wird es notwendig werden, den künstlerischen Verlauf des Jahrhunderts erkennbar zu machen: Wie sah das Erbe aus, welche Triebkräfte machten es zeugungsfähig. wie konnte man sich mit Klassik und Romantik versöhnen, wie zum technischen Einbruch Stellung nehmen, wie urteilt man gerecht Ober das, was noch vorhanden, und über jenes, das aufgegeben werden musste? Man erkennt schon, dass der Fragenkreis sehr weit gezogen werden muß, um selbst auf einem kleinen Gebiet Allgemeingiiltiges herauszuarbeiten. H. St. Chamberlain hat für die Niederschrift der Grundlagen des Jahrhunderts zwei starke Bände gebraucht, für die Niederschrift der Orgelbaugeschichte wäre einer zu füllen; hier soll aber nur ein Kapitel veranschaulicht werden. Zugleich kann die Hauptfrage bejaht werden: Kann die Orgelbaugeschichte eines Zeitalters an einem Hause ermittelt und dargestellt werden, war ein Haus so stark künstlerisch potenziert, dass es auch in grundlegenden Dingen soweit Einfluss nehmen konnte, ein Zeitalter zu profilieren? Auch auf die Gegenspieler kommt es an, auf Künstler des In- und Auslandes, zuletzt wohl, oder gar zuerst, auf den Verlauf der Musikkultur nicht nur einer Landschaft oder eines politischen Raumes, sondern auf den europäischen Hintergrund. Hier kann man schnell zu einer Antwort kommen: Wagner und Liszt, die beiden Dioskuren, bestimmten weithin das Musikprofil der Zeit. Was und wieviel haben aber die Orgelkomposition und die Orgelspielkunst beigetragen? Das Jahrhundert begann für diese. Dinge wohl etwas steril, wenn man den gewaltigen Improvisator J. G. Vogler (1750-1814) ausnimmt, oder an Anton Bruckner (1824-1896) denkt, der die Ära ähnlich ausleitete. Dazwischen liegt das Orgelwerk von Franz Liszt (1811-1886) und C6sar Franck (1822-1890) und die gewaltige Doppelnatur eines Julius Reubke (1834-1858), der neben Max Reger als der bedeutendste Orgelkomponist des Jahrhunderts zu gelten hat. Weitere Forderungen an die Orgelbaukunst stellten dann Josef Rheinberger (1839-1901) und seine Schüler.

Haupterscheinung der Zeit war der klangliche Umsturz, den Wagner herbeigeführt hatte. Hier tritt Eberhard Friedrich Walcker (1794-1872) vor uns. Der junge Württemberger, der mit seinem Vater in der Stuttgarter Klassik wurzelte, erreichte die Sonderaufgabe der Zeit, eine ähnliche, die einst Joseph Gabler (1700 bis 1771) in Weingarten (1750) und Ochsenhausen zu l6sen hatte; eine Aufgabe, die an J. Ch. Egedacher in Salzburg heranreichte. Die Franzosen und auch Carl Riepp hatten es einfacher, denn sie konnten der natürlichen Tradition treu bleiben. In Deutschland hatte jedoch Abb6 Vogler den Orgelklang revolutioniert, wenngleich dessen natureigenste Schöpfung, die Orgel in St. Peter in München (1806/09), ein ungelöstes Problem bleiben mußte. Des geistreichen Mannes Ideen waren aber wertvoll und deshalb nicht zu umgehen, man mußte alles in der Praxis zur Geltung bringen. E. F. Walcker tat das; und was bezeichnend ist, er stieß damit auf keinen besonderen Widerstand bei seinen Auftraggebern. Der Fall hieß Orgel der Paulskirche in Frankfurt/Main (1829-1833). Dieser große klassizistische Kuppelbau war endlich fertig geworden. Klassisches Streben und romantische Sachlichkeit kräftigten diesen Bau. Wichtig in unserem Sinne war der Orgelbau, der gerade in diesem Raume, einem sehr hohen Kuppelschacht, Sonderaufgaben stellte, die u. W. nur einmal J.A.Silbermann beim Bau der Orgel für St. Blasien im Schwarzwald gestellt worden sind. Solche Sonderaufgaben stellten die akustisch schwierigen Kuppelräume. Damit stand E. F. Walcker vor den drei Elementarstufen der Stilkunst überhaupt, nämlich der Archaik, der Klassik und der Romantik (Barock). Diese genetische Reihe des menschlichen Schaffens, die in jeder Stilphase nach Ausdruck ringt, rechnet meist mit einer manieristischen Zwischenlösung, die rückwärts- und vorwärtsschauend zugleich ist. Die schöpferische Potenz wirkt sich dann eben in einer genialen Zusammenfassung des alten Bestandes ebenso aus wie in der Einflechtung des neuen Stoffes, der kraft der schöpferischen Potenz eines Meisters eben das neue Kunstwerk formt. In unserem Falle heißt das: E. F. Walcker konnte die gestellte Aufgabe lösen und Sieger über 29 Mitbewerber werden. Man hatte eben erkannt, dass nur in dieser Vorlage das schöpferische Prinzip zur Geltung kommen sollte. Der Stil dieser Orgel mit III/74 kl. Stimmen ist manieristisch, er steht im geistigen Zusammenhang mit der barocken Tradition, steigert das Stilprinzip des Barock Und nimmt zugleich in der Stimmanordnung für das III. Klavier auch neue Elemente auf, die als Wurzel für das weitere Stilgeschehen des Jahrhunderts gelten können. Allerdings beginnt das Werksystem zu. wanken und tritt in das dynamische Zeitalter, ähnlich den Kirchenbauten, die klassizistisch erfühlt, dann jedoch im Sinne der Moderne weitergeführt werden. Das Konstruktiv-Technische erhält bereits ein leichtes Uebergewicht gegenüber dem Ästhetisch-Dekorativen. In der Paulskirche war der dekorationsarme Bau bereits aus dem heiteren Biedermeier in eine etwas kühle Alt-Frankfurter Atmosphäre überführt. Hier steht auch die Walcker-Orgel. Die klassische Pathetik ist auf ein romantisierendes 1. Manual konzentriert, und eine lyrische Zone im. 3. Manual neu geschaffen; zwei Pedale scheinen Walcker notwendig zu sein, um. die Ausdrucksskala auch farbmässig mit den Manualen in Einklang zu bringen. Quinten und Terzen sind keine Mittel der Registersynthese, sondern akustische Hilfsmittel im Sinne Voglers; die zahlreichen tiefen Stimmen (3 zu 32', 15 zu 16') müssen klanglich gestützt und ausgesteift werden; das bezwecken die ausgebauten Zwischenstufen (10 2/3, 5 1/3, 2 2/3, 6 2/5, 3 1/5, 1 3/5) und gemischte Stimmen mit weiträumiger Zusammensetzung (Kornett 10 2/3 - 5 fach). Das 3. Manual und das 2. Pedal kommen aber schon ohne gemischte Stimmen aus. An unterschiedlichen Stimmen, neben den ausgebauten Prinzipalen, ist alles vorhanden, was zeitgemäß ist. Streicher dagegen stehen nur vereinzelt in dieser Disposition. Nach modernen Prinzipien steht das ganze Orgelwerk allerdings eine Oktave zu tief, doch scheint der Fall in der Akustik der Paulskirche zu liegen; man musste den Raum sogar verkürzen, um die Akustik zu verbessern.

Der Koppelapparat dieser mechanischen Schleifladenorgel war denkbar einfach: fünf Sperrventilen standen je zwei Manual- und Pedalkoppeln gegenüber (III/II, II/ I, I/P, II/P), eine Koppel III/I feh1te, denn eine solche erübrigte sich bei dem Hauptwerke von 23 kl. Stimmen, das die 14 kl. Stimmen des III. Manuals völlig absorbierte.
Mit der Paulsorgel hat E. F. Walcker den Stil für die Orgel des 19. Jahrhunderts festgelegt, jene Werke ausgenommen, die bewusst andere Wege gingen. Bei der Paulsorgel ist alles gewachsen, die Stimmenzahl, der akustische Aufwand, die Manualdynamik, das volle Werk im Sinne des Tuttiprinzips. Wer ein derart großes Hauptwerk wagen durfte, konnte gleichermaßen die anderen Klaviere vernachlässigen oder ihren Stimmkoppelung zumuten; die Gesetze der Romantik waren hier erfüllt, das große Farbwerk stand zur Verfügung. Ob E. F. Walcker bereits hier in all seinen Konsequenzen seinen Intonationsstil fand, dürfen wir
nur vermuten, denn das alte barocke Intonationsprinzip hatte seine Gültigkeit
noch nicht verloren, und die Erfindungen der akustischen Umdeutungen des Pfeifenklanges in den des Orchesters war noch keine generelle Forderung; vielleicht war die Mensurierung mancher Register bereits gelockert, wenngleich die tiefen Stimmen erst akustisch überhaupt und dann dem Raume nach erprobt werden mussten.

Dass diese Paulorgel gerade in stilistischer, d. h. akustischer Beziehung ein
Novum war, erscheint nicht auf den ersten Blick; die romantische Maniera hatte
hier aber ein Hauptwerk geschaffen, und E. F. Walcker seinen und den Ruhm.
des Hauses begründet. Das Haus Walcker war Mittelpunkt deutscher Orgelbaukunst geworden. Alles, was daneben stand, war überflügelt worden, denn dem Meister war es vergönnt, die Brücke zum neuen Stil ebenso zu schlagen, wie die barocke Tradition immer noch wach war. Die Paulsorgel war das Muster für den kommenden zweiten Barock, der hier seinen Anfang nahm und niemals, auch
während der neugotischen Ära, überwunden werden konnte, vielleicht nur dann,
wenn das technische Zeitalter vor dem Ausgange des Jahrhunderts Moden hervorzauberte, denen die traditionelle und zweckgebundene Orgelbaukunst unterlag.
Auch darin liegt ein Stück künstlerischer Intuition, die wir dem Meister zuerkennen müssen. Die Paulsorgel erwies sich zudem als zeugungskräftig. In den großen Orgeln des Hauses konnte gerade dieser neue Stil vervielfacht, fortentwickelt und ausgebaut werden; so erscheint das folgende Verzeichnis als Beispiel für diese Entwicklung.

1839 St. Petersburg, Petrikirche III/65
1855 Agram, Dom III /52
1857 Frankfurt/Main, Dom III /52
1857 Ulm, Münster III/100
1862 Reval
1865 Mühlhausen St. Stefan III /62
1878 Wien, Votivkirche III /61
1883 Riga, Dom IV/124
1884 Leipzig, Gewandhaus III /54
1886 Wien, St. Stefansdom. III /90
1887 Strassburg, ev. Garnisonskirche III /59
1897 Strassburg, St. Wilhelm III /52

Rein äußerlich ist diese Liste eine kühle Zusammenstellung von Orgelbaudaten, innerlich ist sie aber ein Abbild der Stilentwicklung während des 19. Jahrhunderts. Man beachte das
Gleichgewicht zwischen In- und Ausland, denn auch außerhalb der deutschen Grenzen wurde die Stilentwicklung positiv fortgetrieben. Albert Schweitzer hat einmal von den prächtigen Walcker-Orgeln im Elsass gesprochen, an denen er die deutsche und französische Orgelkunst erleben durfte; er meinte die St. Stefansorgel in Mühlhausen im Elsass. Und in der Tat war hier zu erkennen, dass sich Schweitzers Bach-Bild und seine, Werkinterpretation eng an Walcker'sche Klangepopöen anschloss, die den Geist des 19. Jahrhunderts so prächtig aufwallen ließen und zugleich der Bach-Renaissance wertvollste Dienste leisteten. Dabei kann man an die Bach-Apostel jener Zeit, an Robert Franz oder die Leipziger Thomaskantoren, denken.

Die Orgeln Walckers wurden aber auch die Instrumente des neudeutschen Orgelstils, man denke an Franz Liszt und seine großen Orgelwerke (Fantasie und Fuge über BACH; Fantasie über ,Ad nos ad salutare undam"; Variationen über Bachs ,Weinen und Klagen") oder an Julius Reubkes ,94. Psalm der als größtes Werk der Epoche gelten kann. Reubke war selbst Orgelbauer und wußte die Stileinflüsse aus dem Walcker'schen Hause zu schätzen. Die neuen harmonikalen Seiten und ein weitmaschiges, kontrapunktisches Gefüge, die spätere Orchesterkontrapunktik der Neudeutschen, die Richard Wagner in den ,Meistersingern von Nürnberg" ausgebildet hatte, konnten aus solchen Orgeln ebenso fließen wie der akustisch abgestufte Klang, der al fresco-artig zum Pendanten der Orchestermusik wurde. Walcker war am richtigen Wege. Was vielleicht nur A. Cavaille-Coll in Paris und dessen Schüller in den romanischen Ländern vermochten, das gebar hier Walcker in einer weitaus großzügigeren und stilbildenden Weise, noch immer auf dem Boden der Tradition stehend.
Das technische Gefüge der Walcker-Orgeln hatte sich insofern geändert, als seit 1842 die Kegellade die Schleiflade ersetzte; Walcker glaubte eben, die leichtere Spielart fördern zu müssen. Aber noch andere Neuerungen wirkten in der Folgezeit stilbildend (1846 Kastenbälge, seit den 70er Jahren Magazinbälge mit doppelt wirkenden Falten, 1850 Rollschweller, 1857 Barkerhebel für Ulm, alle Klaviere und Pedale); technische Neuerungen im. Atelier (Maschinen, Zinnhobel, Fräsen etc.) sollten der Orgel und damit der Qualität dienen. Verbesserungen im Regier- und Pfeifenwerk (Stimmschlitze) fielen ebenfalls in die Ulmer Zeit; teils wurden solche früher zur Anwendung gebracht. 1887/88 machte man Versuche mit der Membranenlade, doch kehrte man zur Kegellade zurück, die seit 1890 pneumatisch gesteuert wurde; in die gleiche Zeit fallen auch die Versuche mit der Elektrischen Traktur, doch stehen diese Dinge in keinem Verhältnis zur Stilbildung des eigentlichen 19. Jahrhunderts, das mit dem Einbruch der Technik im Orgelbau in ein neues, manieristisches Zeitalter vorstieß.

Was Walcker bei großen Orgeln entwickelt hatte, führte bei ihm selbst und bei den Epigonen zur Stilabstraktion und damit zum Zerrbild des Stils selbst, der die Köpfe der Orgelspieler verwirrte. Solche Orgeln scheiden als Betrachtungsgrundlagen aber aus. Bedeutsamer war Walckers Schaffen für das Ausland, denn gerade hier handelte es sich um das deutsche Kunstwerk, das in Ost und West eine Missionsaufgabe übernommen hatte. In Österreich und Russland kam es zu Sonderwirkungen. Leider konnte nur die Orgel in der Wiener Votivkirche dem Schicksal entgehen, und gerade dieses Instrument ist heute ein ,geschichtlicher Ort" für den vollausgebildeten Walcker-Stil. Nicht nur die einfache technische Gestaltung, die leichte Spielart mittels Barkerhebel, der ebenfalls gültige Prospekt im Ferstel-Bau, sondern vor allem die klingende Substanz in der weiten Halle gerade dieser Gotik ist in einer Brillanz, individualistischen Intonation, der Prinzipalbehandlung und der Plenumsmittel ein Beispiel für die Zeitgeschichte im Orgelbau, aber auch ein Zeuge für das Können der Söhne E. F. Walckers, Eberhard und Carl, die 1872 den Betrieb übernommen hatten, als der Vater ruhmreich von der Welt schied. Leider können wir heute die Wiener Konsequenzen (Domorgel) ebensowenig ziehen wie die von Agram.

Anders die russischen Beispiele, die ihre Krönung in der Domorgel von Riga fanden; dieses Werk war seinerzeit die größte Orgel der Welt. Auch die Orgel der Musikhalle in Boston (USA), eine der ersten ausschließlichen Konzertorgeln, zeigte Individualität und wurde zum Zentrum einer neuen Orgelspielästhetik, die dann vom amerikanischen Kontinent auf Europa wirkte. Wenn auch im deutschen Sinne diese Orgelkunst andere Bahnen ging, als wir geschichtlich anzuerkennen gewillt sind, so bleibt dieses Phänomen dennoch bestehen.
Der Walcker-Stil war aber nicht konstant im Sinne von Stillstand, er war auch dann, als das Haus zu Konzessionen gezwungen wurde (Grundtönigkeit, Elektrische Traktur etc.) so trächtig genug, dass das Haus gerade an seinen eigenen Orgeln den neuen Stil der Elsäßer annehmen und demonstrieren durfte. Emile Rupp und Albert Schweitzer wussten um jene Dinge, dass es gerade Walcker sein musste, der den Orgelstil zur wahren Tradition (Strassburg, Freiburg/Br. Praetorius-Orgel) zurückführen konnte. Hierher gehört zuletzt die Anwendung der mechanischen Schleiflade.

Ein besonderes Kapitel, das dem Orgelbau nicht gerade am Rande begegnet, ist der Prospektbau. Walcker hatte hier die Stilmoden des 19. Jahrhunderts mit zumachen; aber gerade hier wird es offenbar, dass das Haus diese schwierigen Aufgaben bestens löste. Auf die klassizistische Periode war als Stilreaktion die Neugotik und die Renaissance gefolgt; beide fanden dann später keine Gefolgschaft mehr, sondern nur strenge Kritik. Heute ist man allerdings geneigt, auch hier Gerechtigkeit walten zu lassen, weil man erkennt, dass diese neuen Formen von damals nicht immer rezeptiv waren, sondern auch auf Tradition fußen konnten, nur fehlte in einzelnen Landschaften meistens die Kontinuitat. England hatte eine solche (vgl. Hill als typischen Vertreter); die Restauration der deutschen Dome hatte zudem in England eine frühe Wurzel (z. B. Kö1n/Rhein). Wie sollten da die Orgelbauer anders denken, denn die ganze Nation? Ein Gang durch die Stilbeispiele, die Walcker bot, ist mehr als belehrend, hier eröffnet sich ein Kapitel deutschen Orgelkastenbaues. Die kühle Fassade der Frankfurter Paulsorgel soll auf klassizistische Art hinter die eigentliche Architektur zurücktreten und diese zur Geltung bringen. Die Neugotik dagegen kannte solche Bescheidenheit nicht. Ulm, Münster ist heute noch eine neudeutsche Lösung, die von der Dombauhütte aus der Architektur der neuen Münster(turm)bauten abgeleitet wurde.' Allerdings verkennt die Monumentalität der Frankfurter Domorgel das Wesen der Orgel als Instrument, aber die Attrappe im Hauptschiff, die nur dem III. Manual und dem Spieltisch dient, will im wesentlich altarlosen Raum einen Höhepunkt schaffen, der dem Raum eben fehlte. Die späteste Gotik des Kastens der Frankfurter Peterskirche wirkt nurmehr dekorativ und als Vorstufe zu prospektlosen Formen, Renaissanceformen bieten Boston, Leipzig, Gewandhaus und Warschau, Philharmonie. Hier werden die Gehäuseanlagen zu Möbelbauten, die aus der Raumwirkung erklärt werden können. Anders die freien Pfeifenprospekte. Die Kaim-Saalorgel in München 1896 frönt dem Jugendstil; hier wird offenbar, dass dieser ein Spätenkel des Rokoko ist, denn in diesem Beispiele gestaltet die freistehende, bemalte und dekorierte Pfeife ebenso wie die Vasen, Schleierbretter und anderes dekoratives Beiwerk. Auch mit dem teilweise pfeifenlosen Prospekt setzte sich Walcker auseinander. Buenos Aires, Kirche de la Merced hat einen pfeifenlosen, reich dekorierten Innenturm, der an italienische Vorbilder gemahnt. Hier fand man eine Lösung im Sinne des Dom Bedos.
Weitere Beispiele wären aber nur eine Vermehrung des Stoffes. Wer von den Beschauern ahnt aber die Auseinandersetzung zwischen Orgelbauer und Architekt, wer weiß etwas von all dem, das hier als verborgene Kraft nach Konzessionen ruft? Und in diesem Gegensatz von Wollen und Müssen unterliegt oft der Meister der Pfeifen.

Dieses Kapitel Orgelbaugeschichte kann nicht beschlossen werden, ohne nochmals auf die potenzierte Kraft des Hauses Walcker hinzuweisen und nochmals das zu erwähnen, was an künstlerischer Dynamik an uns herangetragen wurde. Walcker hat im 19. Jahrhundert die Orgelbaukunst auf dem Boden der Tradition fortentwickelt, das Haus hat in seinen Großbauten dem Fortschritt gehuldigt, die Spielmanier trotz der Erweiterung der Registerzahl leicht zu halten vermocht und vor allem den Orgelklang dahin kultiviert, dass man heute von einem echten Walcker-Stil im geschichtlichen Sinne sprechen kann. Neben die Registerkultur tritt vor allem die neue Intonationskunst, die eigene Hausmensuren entwickelte (Walckers Prinzipal E-Mensur), wie es Walcker auch verstanden hat, den Orgelklang im Sinne der neudeutschen Schule entstehen zu lassen und zu kultivieren sowie ständig auszubauen. Auf Grund dieser Entwicklung hat Walcker diesen Stil überhaupt erst deutbar gemacht - Umwandlung der prinzipalen Klänge zu Hauptfaktoren ohne Zuhilfenahme der Klangsynthese mittels Aliquoten - und nicht zuletzt diesen Klangkörpern auch ein entsprechendes Kleid gegeben. Diese Worte wollen keine Apotheose zu Gunsten der Mitglieder des Hauses sein, sie geben aber die Summe alles dessen, was bei Walcker alt und neu als Grundlage oder Stilsynthese auftritt und sich dahin bewahrheitet, dass die Orgeln Walckers aus dieser Zeit geeignet sind, die Werke Bachs und Regers zu interpretieren. Viel leicht gerät Bach hiebei ein bisschen romantisch, vielleicht ist es die Spielkultur des 19. Jahrhunderts, die aus diesen Orgeln hörbar an uns herantritt. Regers Werke werden aber die vollkommene Klangimpression (z. B. M. Reger, op. 73 Variationen und Fuge über ein Originalthema). Leider sind die meisten der vorgenannten Orgeln umgebaut oder gar vernichtet; klangliche Veränderungen festzustellen macht es schwer, das Geschichtsbild abzurunden und zu vervollkommnen. Wer hätte jemals ein Grossgemälde aus dem 19. Jahrhundert, von Cornelius oder Overbeck etwa, übermalen lassen, wer Witte bei den Meistern des zweiten Barock im 19. Jahrhundert neue Farben aufgelegt, wer die Zeichnung verändert? Nur der originale Orgelklang wurde hier ein Tummelplatz für den Zeitgeschmack oder das Verkennen der Wesenheit einer Orgel überhaupt.
Der Stil Walckers ist ein Originalstil. Wenn gerade das 19. Jahrhundert an echten Stilevolutionen arm ist und sich in vielen Künsten rezipierend verhielt, dann ist gerade dieser Orgelklangstil eines der echtesten Anliegen dieser Zeit, die auch die unsere in ihren Schoße hatte.

quoika