Musik in Geschichte und Gegenwart

Walcker

, Orgelbauerfamilie, deren Vorfahren im altwürtt. Gebiet bis in das 14. Jh. als Handwerker nachzuweisen sind. Die bedeutendsten Familienmitgl.: Johann Eberhard, * 15. Apr. 1756 in Cannstatt, † 17. Juli 1843 in Ludwigsburg; sein Sohn Eberhard Friedrich, * 3. Juli 1794 in Cannstatt, † 2. Okt. 1872 in Ludwigsburg; dessen Sohn Karl, * 6. März 1845 in Ludwigsburg, † 19. Mai 1908 daselbst; dessen Neffe Oscar, * 1. Jan. 1869 in Ludwigsburg, † 4. Sept. 1948 daselbst; dessen Enkel Werner Walcker-Mayer, * 1. Febr. 1923 in Ludwigsburg. - Johann Eberhard Walcker erlernte Tischlerei und Orgelbau zunächst bei Johann Caspar Hoffmann, Cannstatt († 1772), dann bei Johann Georg Fries, Heilbronn († 1789), dem Meisterschüler von J. A. Schmahl. Später machte er sich als Hoffmanns Nachf. in Cannstatt selbständig. In der Hauptsache war er Tischler. Sein Mitarb. und Schwiegersohn Andreas Laukhuff ist der Gründer der Firma August Laukhuff, Weikersheim.

Sein Sohn Eberhard Friedrich besuchte die Lateinschule und kam zu einem Wagenlackierer in die Lehre, doch lernte er gleichzeitig bei seinem Vater den Orgelbau, dem er sich dann ausschließlich zuwandte. 1820 gründete er in Ludwigsburg einen eigenen Hausstand und ein eigenes Geschäft; 1842 nahm er Heinrich Spaich (1810-1908), der bis 1834 bei seinem Vater gearbeitet hatte, als gleichberechtigten Teilhaber auf. 1854 erhob er seine beiden ältesten Söhne Heinrich (1828-1903) und Friedrich (1829-1895) zu Teilhabern. Mit A. Cavaillé-Coll stand er in Gedankenaustausch.
Für Eberhard Friedrich Walcker war die Ausübung seines Berufes die Erfüllung eines Auftrags. Die »Hauptaufgabe« der Orgel sah er darin, »würdigen Anteil am Gottesdienst zu nehmen«. Seinen Betrieb führte er altväterlich; seine Mitarb. (bis zu 30) wurden an seinem Tisch beköstigt; seine Werkstätte-Ordnung von 1847 nahm auf privater Basis wesentliches der späteren Sozialgesetzgebung vorweg. Als Orgelbauer schenkte er besondere Beachtung dem »Simplifikationssystem« Abbé Voglers. Darauf vor allem beruht seine Pflege der Aliquoten zu 102/3', 62/5', 51/3' und 31/5', aber auch die der höheren Lagen. Im ganzen strebte er »hellen Silberton« an von »großem, heiligem Charakter«. In seiner Werkstatt verwirklichte er erstmals den Gedanken des kirchenähnlichen »Montagesaals«. 1842 führte er aus Gründen der Betriebssicherheit anstelle der Schleiflade die Kegellade ein. Zur Windbeschaffung arbeitete er mit Wasser-, Gas- und Dampfmotoren; für den Betrieb konstruierte er eine Zinnhobelmaschine, stand einer weitergehenden Maschinisierung aber mißtrauisch gegenüber. Zu seinen Schülern gehören Kuhn, A. Laukhuff, Link, Marcussen, W. Sauer (in dessen Orgelbauanstalt in Frankfurt/O. einer der Söhne von Eberhard Friedrich, Paul Walcker, eintrat), Steinmeyer und Weigle.

Werke (Ausw.): 1829-1833 Frankfurt/M., Paulskirche, III/74 m. zwei Ped.; 1836-1839 Leningrad, St. Petri, III/65; 1842 Reval, St. Olai, III/65, u. Kegel (Estland), I/12 (erste Kegelladenorgel); 1834-1845 Stuttgart, Stiftskirche, Umbau u. Erweiterung der aus dem Kloster Zwiefalten stammenden Orgel, IV/76 m. 2 Ped.; 1847 Heilbronn, Kilianskirche, III/49; 1854 Frankfurt/M., Deutsch-reformierte Kirche, III/46; 1852-1855 Agram, Dom, III/50; 1841-1856 Ulm, Münster, als op. 122, III/100; 1857 Frankfurt/M., Dom, III51, u. St. Katharinen, III/52; 1862 Wiesbaden, Marktkirche, III/53; 1863 Boston, Festhalte, IV/89 (m. mech. Kegellade; heute m. neuen Windladen u. elektr. Traktur in eigenem Gebäude in Methuen); 1865 Mülhausen (Elsaß), Stephanskirche, III/61.

Nach Eberhard Friedrichs Tode wurde das Unternehmen von seinen Söhnen weitergeführt, insbesondere von Karl, einem Kaufmann großen Formats, der gegen Ende der sechziger Jahre vom Vater aus Paris in das Geschäft geholt worden war.
Eberhard Friedrichs Zurückhaltung gegenüber der Maschine wurde noch von seinen Söhnen geteilt. Das Bemühen dieser Generation richtete sich wesentlich auf die Traktur. Neben der mech. Traktur wurde der Barkerhebel verwandt. 1889 bzw. 1899 wurden funktionssichere pneumatische bzw. elektropneumatische Systeme entwickelt.

Werke: 1872 Wien, Weltausstellung (m. höchster Auszeichnung), II/15; 1873 Frankfurt/M., Saalbau, III/45; 1876 Philadelphia, Weltausstellung, II/19; 1881/82 Riga, Dom, IV/122; 1884 Hamburg, St. Petri, III/60, u. Leipzig, Gewandhaus, III/54; 1886 Wien, St. Stephansdom, III/90; 1899 Ulm, Münster, Um- u. Erweiterungsbau, III/109.

Oscar Walcker trat 1885 als Lehrling in die Firma ein und besuchte dann, auf Grund künstlerischer Neigung und Begabung, zwei Jahre die Kunstgewerbeschule zu Stuttgart. Sein Wirken in der Firma galt neben dem Zeichnen vor allem dem Außendienst. Unter ihm vollzog sich die Rückbildung der vielköpfigen Leitung; 1916 war Oscar Walcker Alleininhaber. Bei dem im gleichen Jahre erfolgten Tode Wilhelm Sauers übernahm er dessen Firma, deren Werkführer Karl Ruther wurde. 1921 wurde Oscar Walcker von der Philosophischen Fakultät der Univ. Freiburg (Breisgau) zum Ehrendoktor promoviert.
Oscar Walcker unterstützte die kaufmännische Durchgestaltung des Betriebes durch Maschinisierung und Einführung rationeller Arbeitsmethoden. Großes Interesse brachte er der elsäss.-neudeutschen Reformbewegung entgegen (E. Rupp, A. Schweitzer; Obertonaufbau in allen Kl., span.-frz. Schwellwerk). Durch den Bau der Praetoriusorgel für die Freiburger Univ., den er auf die Initiative von W. Gurlitt hin unternahm, gab er selbst dem Reformgedanken neue Impulse.

Werke: 1905/06 München, Odeon (elektr. Traktur), III/64; 1907-1909 Dortmund, St. Reinoldi, V/105; 1909-1912 Hamburg, St. Michaelis, V/163; 1912 Malmö, St. Petri, IV/73; 1921 Freiburg, Univ. (Praetoriusorgel), II/19; 1924/25 Stockholm, Stadthaus, IV/115; 1927 Gelsenkirchen, Hans Sachs-Haus, IV/92; 1929 Barcelona, Weltausstellung, V/136, u. Oslo, Dom, IV/103; 1931 Kufstein, Freiorgel im offenen Bürgertum der Feste Kufstein (Heldenorgel), II/26; 1936 Nürnberg, Kongreßhalle, V/220.

Werner Walcker-Mayer erlernte 1939-1942 bei Sauer den Orgelbau. 1948 übernahm er die Leitung des Betriebes.
Als Betriebsleiter führte Werner Walcker die Rationalisierungs- und Maschinisierungsbestrebungen seines Großvaters fort; in deren Zug stellte er den Bau von Positiven in Serienform auf breite Grundlage, wobei er zwischen Positiv und Kleinorgel unterschied: diese ist für einen bestimmten Raum gebaut, jenes nicht. Klanglich folgt Werner Walcker-Mayer der Linie Oscar Walckers, die von der elsäss. bzw. der Freiburger Reform ausgeht, und erstrebt dabei eine Synthese von deutschem und frz. Orgelbau auf der Basis Hauptwerk(-Positiv)-Schwellwerk. Grundsatz ist, das Verhältnis der mus. Kapazität zur Zahl der Register so günstig wie möglich zu halten. - Z. Z. (1967) hat das unternehmen 300 Mitarb. und hat in seiner Produktion die Op.-Zahl 5300 erreicht. - Die im Dez. 1965 gegr. und staatl. genehmigte »Walcker- Stiftung für orgelwiss. Forschungen« mit dem Sitz in Ludwigsburg (Vorstand) und der Forschungszentrale in Freiburg i. Br. (Mw. Seminar der Univ. unter der Leitung von Prof. Dr. H. H. Eggebrecht) beginnt ihre Arbeit mit der Vorb. einer wiss. Edition der ma. Traktate über die Berechnung der Orgelpfeifen-Mensuren sowie einer Untersuchung der Quellen über die spätröm. Orgel. Zur Erörterung von Gegenwartsproblemen der Orgelmusik und des Orgelbaus sind wiss. Colloquien geplant.

Werke: 1951 Stuttgart, Rundfunk, IV/72; 1954 Frankfurt/M., St. Katharinen, IV/55; 1957 Frankfurt/M., St. Leonhard, IV/54; 1958 Dortmund, St. Reinoldi, IV/72, u. Stuttgart, Stiftskirche, IV/84; 1959 Heilbronn, Kilianskirche, IV/55; 1963 Wesel, Dom, IV/66, u. Eßlingen, Stadtkirche, IV/91; 1966 Budapest, Franz Liszt-Kons., IV/86, u. Ulm, Münster, V/94.

Literatur: GerberNTL; Daheim V, 1869, 411ff.; H. Böckeler, Beschreibung der neuen Orgel im Kurhaussaale zu Aachen, Aachen 1876; E. F. Richter, Katechismus der Orgel [H. Menzel], Lpz. 4/1896; G. Bohnert, Die Ludwigsburger Orgelbauindustrie in hundertjähr. Entwicklung, Phil. Diss. Heidelberg 1920; W. Gurlitt, Die Paulskirchenorgel in Frankfurt am Main in ZfI 60, 1940, 89ff.; H. Walcker, Das Geschlecht der Walcker in sechs Jh., Stg. 2/1940; W. Gurlitt, Die Orgelmacherfamilie Schmahl in MuK 13, 1941, 11ff.; ders., Schwäb. Orgelbaukunst in ZfI 61, 1941, 105ff.; O. Walcker, Erinnerungen eines Orgelbauers, Kassel 1948, BVK; W. Walcker - Mayer, Orgelbau Walcker in Walcker, Hausmitt. Nr. 35, Ludwigsburg Apr. 1965, 12ff.; J. Fischer, Das Orgelbauergeschlecht Walcker in Ludwigsburg, Kassel 2/1966, BVK.

Hans Klotz

[Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Walcker (Familie), S. 1 ff.Digitale Bibliothek Band 60: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 79390 (vgl. MGG Bd. 14, S. 141 ff.) (c) Bärenreiter-Verlag 1986]

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