Stuttgart-Stiftskirche

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EBERHARD FRIEDRICH WALCKER
DIE STIFTSKIRCHENORGEL IN STUTTGART
Im Jahre 1834 hatte Walcker mit einer Orgelbaukommission der Stiftskirche in Stuttgart einen Vertrag abgeschlossen über eine Versetzung und vollständigen Umbau der Stiftskirchenorgel. Diese Orgel stand ursprünglich im Kloster in Zwiefalten und war eine Nachbildung der Orgel in Weingarten. Durch die Säkularisation kam die Orgel in den Besitz des Staates, und Friedrich Wilhelm I. machte sie der Stiftskirche zum Geschenk. Das Werk hielt indes nicht, was es versprach, und war außerdem am falschen Platz aufgestellt. Nachdem jahrelang — auch von Johann Eberhard Walcker — an der Orgel immer wieder herumprobiert und -repariert wurde, ohne Erfolg, entschloss man sich nun zu gründlicher und grundsätzlicher Abhilfe. Aus diesen Verhandlungen ist besonders bemerkenswert, welchen Standpunkt Walcker, der doch der beauftragte Geschäftsmann war, dabei einnahm. In den Akten der Stiftskirche findet sich u.a. folgender Brief an seinen Freund Cronberger in Stuttgart. Cronberger war Kanzlist bei der Kammer der Standesherren und mit allen Finessen eines Württembergischen Schreiber-Bürokraten wohl vertraut. Der Brief lautet:
„Ludwigsburg, den 14. Mertz 1837. Lieber Cronberger! Ich war vergangene Woche und bis vorgestern verreist, weshalb meine Antwort erst jetzt erfolgt. Das, was Du mir in Betreff unseres Planes noch mal zur Überlegung und Beurtheilung mitgetheilt hast, habe ich nochmals reiflich erwogen und lege Dir und Herrn Kocher hiermit meine Ansicht vor. Der ganze Mehrbetrag des letzten Planes kam mir, in Vergleichung mit dem, was weiter geschehen soll, gar nicht auffallend viel vor und übersteigt auch die Summe, die man sich vorgestellt hat, nur wenig. In Betreff der Berechnung des früheren Planes von anno 1834 möchte es vielleicht sein, dass einzelne benannte Gegenstände noch irgendetwas niedriger gestellt werden könnten;
allein die Erfahrung hat es mir schon genugsam bewiesen, dass die vielen nichtbenannten Nebenumstände, die selbst der erfahrenste Praktiker nicht vorauszusagen und aufzuzählen vermag, von selbst die oft noch so vorteilhaft scheinende Berechnung zum ganz mittelmäßigen und oft gar geringen Verdienst heruntersetzen. Ich könnte mich daher vorderhand nicht leicht entschließen, auf die frühere Berechnung irgendeine andere Last aufs Geratewohl zu legen, bin aber dagegen auf der anderen Seite vollkommen bereit, eine solche Kostenverminderung zu erzielen, die der Ausführung des Ganzen behilflich wird und von der Hauptsache nichts verloren gehen wird.
Nur muss ich im Voraus bedauern, dass meine Ansichten in dieser Beziehung von den Deinigen und des Herrn Kocher etwas verschieden sind. In dem ersten Artikel Lit. a und b legen Sie beide einen weit größeren Wert auf die vorgeschlagene Tasteneinrichtung oder die Verbindung der beiden Seitenwerke, als ich es nach meiner Überzeugung finde. Ich dächte, die Seitenwerke könnten füglich hinter den Bogenpfeilern geteilt und ohne Verbindung mit den Hauptpartien gelassen, nur durch einfache Seitenwandungen geschlossen werden; dadurch würden 90 Gulden erspart.
Punkt 2: Man. Untersatz 32 Fuß möchte ich möglichst beibehalten.
Nr. 2: Physharmonika 8 Fuß sollte, wenn auch gleich Herr Kocher nicht dafür ist, in einem so umfassenden Werk durchaus nicht fehlen, und
Nr. 3: dass die verlängerte Leitung des Regierwerkes eine absolute Notwendigkeit ist und der Posten hierfür bleiben muss, wirst Du Dich erst dann überzeugen, wenn ich Dir die Einrichtung desselben genauer detailliert und den ganzen Plan über die Leitung des Regierwerks mitgeteilt habe ..."
Es folgt nun eine Skizzierung der von Walcker für unbedingt notwendig gehaltenen Gestaltung der neuen Disposition, wie sie dem Nachtragsplan zugrunde liegt. Dann wird weiter gesagt:
„Die Clarine im Pedal wegzulassen bin ich nicht der Ansicht. Nicht umsonst trifft man in jeder großen Orgel Zungenwerke von jeder Tonhöhe an, diese, ob sie auch einzeln öfters nicht viel taugen, müssen dem ganzen, so wie die Mixturen, nur wieder auf eine andere Art, Glanz und Leben geben. Es wurde mir von einigen berühmten Organisten, wie z. B. Hesse in Breslau und Töpfer in Weimar, sogar getadelt, dass ich in meinem Frankfurter Werk nicht auch eine zweiunddreißigfüßige Zungenstimme disponiert habe, dagegen haben sie es sehr lobenswert gefunden, dass sogar zweifach Hörnlein angebracht waren. Auf meiner Reise sah und hörte ich in Hamburg ein solches zweiunddreißigfüßiges Bombardregister, das mir wirklich, zum ganzen Werk gebraucht, sehr gut gefiel..."
„Du hast mir im dritten Klavier auch noch die Fertigung eines neuen Registers (Flötenregister 8 Fuß) angehängt; finde ich, im Verlauf der Arbeit, dass mein Verdienst ausreicht, so sei versichert, dass ich dasselbe noch einrangieren werde, und in diesem Fall würden es 66 Register werden. (Dass das nicht nur ein bequemer Kanzleitrost für den Augenblick sein sollte, geht daraus hervor, dass Walcker eine genaue Disposition in den Brief eingeschaltet hat über die eventuelle Gestaltung dieses 66. Registers. Tatsächlich hat die Orgel, bis sie vollständig fertig war, sogar 70 klingende Register umfasst, wie aus dem Bericht im .Schwäbischen Merkur" über die Einweihung der Orgel zu entnehmen ist. D. Verf.)
Ich bitte nun Dich sowohl als Herrn Kocher herzlich, lassen Sie jetzt doch die Disposition so wie sie ist; das Ganze hat nun ein gar schönes Verhältnis, und sollte auch die eine oder andere Stimme überflüssig erscheinen, sie gehört zum Ganzen! und ein anderer findet vielleicht sein Wohlgefallen daran.
In einer kompletten Haushaltung sind silberne und erdene Gefäße, zu ehren und unehren Zwecken!.......
Meinen herzlichen Gruß an Dich und Herrn Kocher, sowie an Deine liebe Frau, der ich von Herzen eine baldige Genesung wünsche.
Dein wahrer und aufrichtiger
E. Fr. Walcker."
 
In der Sache hat Walcker durchaus gesiegt, aber die Arbeit hat sich jahrelang hingeschleppt und noch allerlei Wendungen genommen. Am 12. Juni 1837 wurde sodann ein neuer, detaillierter Vertrag über die Versetzung der Stiftskirchenorgel vom Chor der Kirche auf die gegenüberliegende Empore und über eine vollständige Umarbeitung der Orgel mit Walcker abgeschlossen. Dann aber kam durch das Dazwischentreten eines Nürnberger Architekten, Prof. Heideloff — ein geborener Stuttgarter —, eine vollständige Erneuerung der inneren Ausgestaltung der Stiftskirche, die auch eine Erneuerung des Orgelgehäuses vom Rokoko zum altdeutschen Baustil erforderte. Als Walcker sodann mit der Einziehung der neuen Windlade — Kegellade an Stelle der Schleiflade — da und dort große Erfolge erzielte, entschloss man sich, auch die Stiftsorgel mit dieser Neuerung auszustatten, was naturgemäß immer wieder zu neuen Nachforderungen Walckers an die Stadt Stuttgart führte, die damals die Kosten für die ganze Arbeit zu tragen hatte.
Wie langsam aber eine solche Sache im Kampf mit der berühmten und berüchtigten schwäbischen Schreiberherrschaft vor sich ging, mag daran ersehen werden, dass 'die Einweihung der Orgel glücklich am 8. Oktober 1845 erfolgen konnte. Der letzte Nach- und Schlussvertrag wurde am 19. Juni 1843 unterzeichnet. Die Arbeit belastete also die geschäftlichen Dispositionen E. F. Walckers mehr als elf Jahre. Es gab dabei noch mehrfach starke Meinungsverschiedenheiten sachlicher und grundsätzlicher Art, in denen Walcker unerbittlich für seine künstlerische Überzeugung kämpfte und auch siegte, aber es gab auch scharfe Zusammenstöße wegen der Behandlung der finanziellen Dinge. Die erste Vereinbarung lautete, dass ein Drittel der Vertragssumme bei Auftragserteilung, ein Drittel etwa in der Mitte der Arbeit und ein Drittel nach Fertigstellung bezahlt werden sollte. Durch die mehrfachen Änderungen des Auftrags änderten sich aber naturgemäß auch die Summen der Kosten, und es kam zu Zwischenforderungen, die seinem Freunde Cronberger schwer zu schaffen machten und dessen pedantische, kameralistische Denk- und Rechnungsweise ganz aus der Fassung brachten. Aus solcher Bedrängnis heraus hat er seinem Freund Walcker in einem Brief vom 24. Februar 1842 hart zugesetzt. Er schreibt u. a.: „Der Tatbestand der geleisteten Arbeit und die Preiswürdigkeit derselben sei noch gar nicht urkundlich festgestellt", Walcker werfe sich da in eigner Sache zum alleinigen Richter auf usw. Darauf antwortet Walcker am 28. Februar folgendermaßen:
„Lieber Freund! Dein gestriges Schreiben ist für mich und meinen C. Spaich im höchsten Grade kränkend, und wir begreifen kaum, wie man so kaltblütig und schlechtweg einem Handwerksmann (denn als solchen sieht man einen ja doch bloß an) seinen sauer verdienten Lohn verkümmern, seine Forderung zurückweisen und als unstatthaft erklären kann! Haben doch andere Handwerksleute und selbst Baumeister ihre Rechnungen eingereicht und um ihre Zahlungen gebeten! Warum soll es denn bei mir allein unanständig sein, für wirklich geleistete Arbeit, wo bereits beinahe zwei Drittel nur als bare Auslagen praestiert worden sind, eine Bitte um gefällige Ausbezahlung zu stellen?
Wir beide sind täglich zur Verantwortung bereit und wünschen, dass uns bald eine Zeit bestimmt werden möge, wo wir diejenigen überzeugen können, welche die Rechnung für unbillig finden.
 Dich freundschaftlich grüßend E. Fr. Walcker."
 
Cronberger gab sein zweites Schreiben vertraulich auch dem damaligen Stuttgarter Stadtschultheißen Gutbrod, der der Orgelbaukommission angehörte, zu lesen und stellte Walcker anheim, sich bei Gutbrod über ihn und den Organisten Kocher, der mit ihm derselben Meinung sei, zu beschweren. Ob Walcker das tat, ist nicht bekannt. Aus den Akten der Stuttgarter Stiftskirche, der diese Dinge entnommen sind, ist nichts darüber ersichtlich. Dagegen liegt ein Schreiben Gutbrods an Cronberger vor, in welchem zwar der Eifer und die Korrektheit Cronbergers anerkannt werden, aber doch zugleich dem Bedenken Ausdruck gegeben wird:
„Ob nämlich durch Ihre Erwiderung Herr Walcker nicht in einer Weise betroffen werden wird, welche nachteilige Rückwirkungen auf unsere .gute Sache' äußern könnte.
Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!
Aber das müssen Sie, der Sie Walcker besser kennen als ich, wissen, ob Ihr Schreiben nicht einen so starken Eindruck auf ihn macht in der Art, dass er für unser Geschäft, das doch vor allem mit Lust und Liebe behandelt werden sollte, einen Widerwillen fasst, dessen Folgen kaum zu übersehen sein würden."
Aus diesem Schreiben ist zu schließen, dass der in dieser Angelegenheit maßgebendste Mann — denn die Stadt Stuttgart war Zahlstelle in dieser Sache — für Walckers Forderung weit mehr Verständnis hatte als Sekretär Cronberger, und so ist auch anzunehmen, dass die Angelegenheit in einer für Walcker befriedigenden Weise erledigt wurde.
Über die Aufnahme der Orgel in der Öffentlichkeit und über den Eindruck, den das Spiel auf ihr auf die Zuhörer machte, ist in den Nummern 307 und 309 des „Schwäbischen Merkur" von 1845 ein geradezu enthusiastischer Bericht enthalten:
„Die Orgel steht jetzt nach dem Urteil der Kenner in allen ihren technischen Teilen ganz, in ihrem Pfeifenwerk zu zwei Dritteln neu und auch im letzten Dritteil so verändert und gebessert, dass es dem Chor als neu erscheint, in einer Vollendung da, wie gewiss bis jetzt kein anderes Orgelwerk in- und außerhalb Deutschlands." Dagegen wird von der alten Orgel gesagt, dass sie „teils von vornherein unzweckmäßig angelegt und höchst mangelhaft ausgeführt war, teils wurden diese ursprünglichen Defekte bei der Aufstellung noch mit einer nicht unbedeutenden Anzahl neuer vermehrt. Kein Wunder daher, dass das Werk, aller fortwährenden kostspieligen Reparaturen ungeachtet, doch niemals die Wirkung herzuverbringen vermochte, die man nach seiner Größe hätte erwarten können." Walcker habe „durch dieses von ihm zwar nicht ganz neu erbaute, aber durchaus erneuerte Werk seinem Namen keine geringere Ehre als durch seine großartigen Neubauten gemacht."
„Möge das wohlgelungene Werk als ein Denkmal vaterländischer Kunst und als ehrendes Zeugnis für den Kunstsinn der Städtischen Kollegien, die sich's nicht geringe Opfer kosten ließen, unversehrt auf eine dankbare Nachwelt übergehen!"
In einem Sonderbericht des „Merkur" wird auch noch eingehend der Fortschritt im Orgelspiel herausgestellt, den die von Walcker bedeutend verbesserte Spring-Windlade gegenüber der Schleif-Windlade bedeutet. Zusammenfassend wurde gesagt: „Kurz, das Spiel ist jetzt so erleichtert, dass z. B. auf der Stiftskirchenorgel bei vollem Werk von 70 Registern mit gekoppelten vier Klavieren noch ein schöner Triller gemacht werden kann, was früher eine gänzliche Unmöglichkeit war. So ist nun erreicht, was lange gewünscht und gesucht wurde: das Traktement ist so leicht als möglich, die Register erscheinen im einzelnen und ganzen in ihrer Kraft und Fülle, die Reinheit ihrer Intonation und Stimmung bleibt unverändert, und das Ganze ist von einer bis jetzt nie gehörten Pracht."
In diesem Zusammenhang wird auch mitgeteilt, dass sich aus der Orgelbauanstalt Walcker ein selbständiger Zweig abgelöst und ein eigenes Orgelbaugeschäft aufgemacht hat. Der Neffe von E. Fr. Walcker, Orgelbauer Karl Weigle, der „den ganzen Bau im Geiste seines Oheims an Ort und Stelle geleitet und mit lobenswerter Präzision ausgeführt hat, ist durch diese Arbeit in unserer Stadt heimisch geworden und hat bereits ein eigenes, viel versprechendes Etablissement hier eröffnet". Es ist die noch heute bestehende Orgelbauanstalt Friedrich Weigle in Echterdingen bei Stuttgart.

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