Ffm-Paulskirche

(4)
EBERHARD FRIEDRICH WALCKER
DIE PAULSKIRCHEN-ORGEL IN FRANKFURT A. M.
 
Im Jahre 1824 ließ die Stadt Frankfurt am Main ein Konkurrenzausschreiben für die Erbauung einer Riesenorgel in der dortigen Paulskirche ergehen. Eine große Anzahl Angebote von den bekanntesten Orgelbauern der Zeit waren eingegangen; der Name Walcker war nicht darunter. Es erschien ihm zu gewagt, auf so schwacher finanzieller Grundlage an ein solches Unternehmen heranzugehen.
Das Bedenken legte sich erst nach mehrfacher Ermunterung durch seine Freunde. Um so bezeichnender ist sein Auftreten gegenüber der den Auftrag vergebenden Kommission. Das kommt sehr anschaulich zum Ausdruck in einer Studie von Willibald Gurlitt über „Die Paulskirchenorgel in Frankfurt a. M." (Zeitschrift für Instrumentenbau. Jahrg. 60 Breslau 1940, Seite 89 ff.), wo in Bezug auf Walcker folgendes zu lesen ist:„In diesem Jahr (1825) bewerben sich auf ein öffentliches Ausschreiben des Senats und der bürgerlichen Kollegien Frankfurts fünfzehn namhafte Orgelbauer aus allen deutschen Gauen um den Bau der neuen Orgel. Als letzter unter ihnen gibt Eberhard Friedrich Walcker unter dem 12. September 1825, seine Absicht kund, sich auch zu bewerben und dies hauptsächlich deswegen, weil das neue Werk sehr groß und vorzüglich werden soll, wo er dann Gelegenheit hätte, seinen Ruf als Orgelbauer nicht nur in seinem Vaterlande (Schwaben), sondern auch im Auslande zu gründen". Dabei erkundigt er sich zunächst, ,ob Beschlüsse über Inhalt und Umfang des neuen Orgelwerks gefasst, wie viele und welche Register, wie viele Klaviere vorgesehen seien, ob der Orgelbauer die Disposition nach eigenem freien Ermessen entwerfen dürfe, ob eine bestimmte Summe für die Kosten festgelegt oder ob allein die äußerste Vorzüglichkeit und Trefflichkeit des Werkes die leitende Rücksicht sei'. Darauf reicht Walcker einen großzügigen Dispositions-Entwurf und Kostenvoranschlag für ein der Hauptkirche zu Frankfurt angemessenes Orgelwerk von vier Manual- und zwei Pedalklavieren zu 69 Registern' ein.
 Die Bauzeit bemisst er auf vier bis fünf Jahre als Minimum (das Aufstellen der Orgel nicht einbegriffen), zumal das Geratene sieben Jahre wären', wo doch der berühmte Orgelmacher Gabler an seiner Orgel im Kloster Weingarten vierzehn Jahre gebaut habe. Als Besonderheit empfiehlt er die neuen .einschlagenden' statt der alten .aufschlagenden' Zungenstimmen, nicht nur wegen des geschmeidigeren Tones und der dauerhafteren Stimmung, sondern vor allem wegen ihrer erregenden Schwellfähigkeit im Crescendo und Decrescendo. Im Übrigen habe die Größe eines Orgelwerks, der möglichste Reichtum desselben an den mannigfaltigen Registern nicht nur den Zweck hinlänglicher Stärke, sondern ganz vorzüglich den Zweck reicher Auswahl und Modifikation des Tones, das Ohr und Gemüt durch interessante Abwechslungen der Töne zu unterhalten. Der Organist solle in seinem Werke eine unerschöpfliche Quelle der verschiedensten Charaktere und Stimmungen für jede gegebene Veranlassung finden.'
Zur Begutachtung der eingelaufenen Vorschläge werden C. H. Rinck aus Darmstadt, J. A. Andre aus Offenbach und der ansässige Organist Petsche beigezogen. Der Vorschlag Walckers wird als ebenso .sachkundig wie rechtlich und vorsichtig' bewertet. Man beugt sich dem überlegenen .Mechaniker' in Walcker, findet aber noch kein Verständnis für den .Künstler' in ihm. Ein Dispositions-Entwurf der Rinck — Andre — Petsche geht den inzwischen in engere Wahl gezogenen neun Orgelmachern zur Gegenäußerung zu. Hier greift nun Walcker mit einem ausführlich begründeten Schreiben vom 25. Oktober 1826 entscheidend in die Verhandlungen ein, indem er den vorgelegten Entwurf aufs schärfste kritisiert und den großen Nachteil, der hier zu entstehen droht, abzuwenden bittet'. Unter Hinweis auf Vogler warnt er vor den gehäuften Zungenstimmen und Mixturen, empfiehlt dagegen mehr grundtönige Register und umreißt das ihm vorschwebende Orgelklangideal folgendermaßen: .Bessere Einsichten der neueren Zeit verwerfen all dies Gewirr von Tönen und halten sich an das, was den Ton rein, bestimmt und sicher macht, an die Einheit des Tones, die jedoch eine gemäßigte Anwendung einiger weniger Quinten und Terzen, wenn man solche nun einmal haben will, nicht ausschließt; man zieht vor, viele Register zu haben, deren jedes von dem Spieler auch einzeln zum Vortrag einer Melodie gebraucht werden kann, die aber bei ihrer Einheit gleichwohl eine reiche Abwechslung in ihrem Charakter darbieten. Die Schönheit einer Orgel bestehe nicht bloß im Geschrei und am wenigsten im konfusen Geschrei; davon ist man zurückgekommen. Sie besteht vielmehr darin, dass der Ton einen großen, und ich möchte sagen einen heiligen Charakter habe. Dazu kommen alle technischen Vorzüge Walckerscher Arbeit: bestes Pfeifenmaterial, das die Klang-Masse zu einem hellen Silberton zusammenschmilzt', gute Stimmung, .frische und schnelle' Ansprache der Pfeifen, ein .leicht und sanft' gehender Mechanismus, nicht zuletzt eine .bis zur größten Lieblichkeit und Gleichheit gebrachte Intonation, auch dass bei einzelnen Registern Piano und Porte gespielt werden kann'. Als .wahrer Künstler" schließt Walcker seinen Bericht: ,Nur der Wunsch, etwas Großes und Ausgezeichnetes zu liefern und mir dadurch einen Namen zu machen, war bis jetzt die einzige Rücksicht, die mich bei meiner Konkurrenz um diese Arbeit geleitet hat; er würde auch die einzige Rücksicht sein bis zur letzten Hand, die ich an das Werk legen würde; und nicht ehe würde ich es verlassen, als bis mir die Zufriedenheit Frankfurts, der Beifall der Kunstkenner und meine eigene innere Zufriedenheit zuteil geworden wäre, ja bis ich mir sagen könnte, dass in fernen Zeiten noch der Kenner in jedem, auch dem geringsten Teil des Werkes den Fleiß erkennen müsste, der auf dessen Vollendung gewendet worden.'
Die endgültige Prüfung der Vorschläge durch den vorsitzenden Schöffen, Senator Dr. Hoch, ergibt am 29. Januar 1827 die engste Wahl von drei Orgelmachern, nämlich Johann Friedrich Schulze in Paulinzelle, Gebrüder Overmann in Heidelberg und Walcker. Dazu berichtet Dr. Hoch, der sich .weder als Musiker noch als Mechaniker' angesehen wissen, sondern höchstens die .Einsichten eines Dilettanten' sich zuschreiben wollte: .Aber das darf ich wohl sagen, dass unter allen Konkurrenten, die sich gemeldet, von Anfang an Herr Walcker sich mir als einen wissenschaftlich gebildeten und nicht bloß mechanischen Orgelbauer angekündigt, und er schon längst mein ganzes Vertrauen und meine Überzeugung besessen hat, dass wir nur von ihm die tüchtigste Orgel würden verfertigt haben können.' Aus den weitschichtigen Verhandlungen leuchtet auch sonst die überragende Persönlichkeit Walckers überall hervor, seine kernig schwäbische Art, seine überlegene, allseitige Sachkunde, sein rechtliches und gottesfürchtiges Wesen, sein kritisches gewissenhaftes Urteil, seine grüblerische Bedächtigkeit, immer bereit und fähig, ebenso freudig Belehrung aufzunehmen wie seine eigene Überzeugung zu verteidigen und ohne Fanatismus auch die anderen Seiten eines Sachverhaltes zu betrachten, nach altem Schwabenspruch: „So ischs no au wieder."
Am 20.Februar 1827 wird endlich im Senat beschlossen, den Orgelbau an Walcker zu vergeben, den Meister mit der Ausführung des abgeänderten Entwurfs von Rinck — Andre — Petsche zu betrauen und ihn schließlich nach Frankfurt einzuladen, um die Einzelheiten des ausführlichen Vertrages zu erläutern. Am 4. Oktober 1827 wird dieser Vertrag unterzeichnet. Mit dem Meister arbeiten fünfzehn Gesellen nicht weniger als sechs Jahre an dem Werk, zunächst in der Ludwigsburger Anstalt, dann auch in einer Werkstätte neben der Kirche in Frankfurt, bis zur Einweihung des Gotteshauses am 9. Mai 1833 das Meisterwerk vollendet ist. Es sollte den Siegeszug der Walckerorgel durch die Welt einleiten. Ein deutliches Bild vom Klang-Aufbau der Frankfurter Paulskirchen-Orgel des Jahres 1827 vermittelt die folgende, von Eberhard Friedrich Walcker eigenhändig im Jahre 1834 aufgezeichnete Original-Disposition:
 

Hauptwerk (unteres Manual):Principal 16' (im Prospekt) Viola di gamba major 16' Flauto major 16' Untersatz 32' (gedeckt) Octav 8' Viola di gamba 8' Gemshorn 8' Flöte 8' (offen) Quint SW (offen) und 8')   Octav 4' Hohlpfeife 4' (offen, sehr weite Mensur) und 4')Fugara 4' Terz 3 1/5' (verspitzt) Trompete 8' (aufschlagend, von Zinn)Quint 22/3' Octav 2' (mit Repetition)Waldflöte 2' Terz 1 3/5"Octav l' (ohne Repetition)Cornett 10 2/3" (5fach, l. Chor geht durchs ganze Klavier und repetiert nicht)Mixtur 2' (5fach,repetiert und wird zu 4' Scharff l'(4fach, repetiert und wird zu 2' Tuba 16' (aufschlagend, von Zinn) 


 

Zweites Werk (mittleres Manual):Principal 8' (von engl. Zinn, im Prospekt) Bourdon 16' (gedeckt, von Holz) Salicional 8' Dolce 8' (oben weite Mensur) Flute traversiere 4' (mit überblasendem Ton, von Holz) Gedeckt 8' Quintflöte 5 1/3" (offen)   Octav 4'Quintatoen 8'Quint 22/3' (nach Art des Gemshorn)Rohrflöte 4' (von Zinn)Octav 2'Mixtur 2' (5fach)Posaune 8' (aufschlagend)Vox humana 8' (einschlagend) 


 
                              

Drittes Werk (oberes Manual): Principal 8' (nicht im Prospekt) Quintatoen 16' (gedeckt) Harmonica 8' (offen) Dolcissimo 4' Lieblich Gedeckt 8' (mit doppelten Labien) Bifra 8' (von Zinn) Hohlflöte 8' (mit überblasendem Ton) (Beide Zungenregister für Crescendo undSpitzflöte 4' (ist ein ganz eng mensuriertes, Decrescendo)eng aufgeschnittenes Gedeckt, welches sichvom Discant an um 12 Töne überbläst;also wird das c, welches 2' Ton angibt,so lang als das f, welches 6' Ton angibt)   Lieblich Gedeckt 4' Flute d'amour 4'Flautino 2'Nasard 22/3'Hautbois 8' (einschlagend)Physharmonica 8' (einschlagend) 


 

Erstes Pedal (untere Pedaltastatur): Principal 16' (von Cis an im Prospekt) Subbaß 32' (offen, bis ins tiefe C ausge- zeichnet stark im Grundton ansprechend) Contrabaß 32' (offen, mit dem Grundtonansprechend)Octav 8' Terz 6 2/3' Quint 5 1/3'  Octavbaß 16' (offen) Violon 16' (offen)Quint l 2/3(offen)Posaune 16' (aufschlagend) Violoncell 8' Trompete 8' (aufschlagend) Clarine 4' (aufschlagend)Cornettino 2' (aufschlagend)  
Zweites Pedal (obere Pedaltastatur): Gedeckt 16' Violon 16' Principal 8' Flöte 8'Flöte 4' Waldflöte 2' Fagott 16' (einschlagend)   


Zusammen: 73 Register.
Nebenzüge: 5 Sperrventile, Tremulant, 5 Koppeln (l. Ped. + Hptw., 2. Ped. + 2. Man., l. Man. + 2. Man., 2. Man. + 3. Man.), Calcantenwecker, Manualwindtrennung.
Fußtritte: Crescendo zum 2. Man., Crescendo zum 3. Man., welches in einem Kasten steht und der mittels Jalousieläden geöffnet und geschlossen werden kann; Crescendo zur Physharmonica (und Hautbois).
12 Blasbälge mit Spannfalten, 7 für die Manuale, 5 für die Pedale.
Die 3 Man.-Klaviere von C — f " ' (54 Tasten); Pedal von C — d" (27 Tasten). Untertasten von Ebenholz, Obertasten der Manuale von Elfenbein, des Pedals von Ahornholz.
Preis (ohne das Gehäuse); fl. 21864.—" (bis hierher Gurlitt, a. a. 0.).
Schon die Tatsache, dass mehr als hundert Jahre nach der Erbauung dieser Frankfurter Orgel die wissenschaftliche Musikforschung sich mit dieser, als mit etwas noch durchaus Gegenwärtigem, im Bereich des Orgelspiels und des Orgelbaues Bedeutsamen beschäftigt, beweist, dass es sich bei dem Werk um eine Sache von wirklich epochaler Bedeutung handelte, die Walcker mit einem Schlag in die vordere Linie der Orgelbauer stellte. Mit ihm musste man von diesem Augenblick an rechnen, nicht nur wegen seines ausgezeichneten handwerklichen Könnens, sondern auch wegen seiner Befähigung, den Ausbau des Instruments zu höheren musikalischen Leistungen auf Grund eigener wissenschaftlicher Überlegung von sich aus zu steigern. Er stellte den Organisten Orgeln zur Verfügung, mit denen sie musikalisch wesentlich höhere künstlerische Leistungen vollbringen konnten als bisher, und er gab damit auch den Komponisten einen weiteren Spielraum für ihr Schaffen. Dabei wusste er sehr klar, wo und wie eine weitere technische Vervollkommnung der Orgel möglich und notwendig sei. Er arbeitete mit Eifer an einer Verbesserung der ganzen Klanggestaltung, sei es im Bau der Pfeifen, sei es in der Winderzeugung wie in der Windzufuhr. Sie musste unbedingt sicher, gleichmäßig und jeder Anforderung gewachsen sein. Die Ansprache der Pfeifen musste leicht, rasch, klar und sicher sein. Man musste die Orgel so konstruieren, dass man bei ihrer Aufstellung möglichst unabhängig und beweglich würde und sowohl akustisch wie raumkünstlerisch den besten Platz für sie auswählen konnte. Er hatte auch ganz klare Vorstellungen, wie das zu erreichen sei, vor allem aber, er hatte den unermüdlichen Eifer, das nun auch Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen.
Aus eigenen Aufzeichnungen von Eberhard Friedrich über den Aufbau der Orgel in Frankfurt geht hervor, dass auch aus der Praxis heraus sich seinem kühnen Flug noch einmal ernste Schwierigkeiten entgegenstellten. Er hatte der auftraggebenden Kommission ein zweiunddreißigfüßiges Bassregister geradezu aufgezwungen unter Zurückweisung aller erhobenen Zweifel und Bedenken. Und nun erlebte er, dass all die Einwände, die gegen ihn im Namen bisheriger Erfahrungen erhoben wurden, auch seinem Werk gegenüber als zu Recht erhoben, bestätigt wurden. Es entstand nicht eine irgendwie annehm- und verwertbare Tonbildung, sondern nur ein unmusikalisches wildes Geräusch, so dass er schon anfing, selbst an der Durchführbarkeit seiner Idee in dem Sinne zu zweifeln, dass ein solch tiefer Ton das menschliche Gehör vielleicht gar nicht mehr musikalisch anspreche.
Da kam ihm ein ganz simpler Vorgang zu Hilfe. Als er eines Tages sinnierend auf seine Werkstatt in Frankfurt zuschritt, die er für die Zeit der dortigen Orgelaufstellung gemietet hatte, klang ihm ein aufreizend starker tiefer Ton entgegen, der ihn zu dem Ausruf veranlasste: „Das ist ja mein Bass!" Er ging der Sache nach und hörte, dass einer seiner Gesellen, der rasch etwas Leim heiß machen wollte, eine starke Handvoll Hobelspäne in den Windofen steckte und anzündete. Die stark auflodernde Flamme habe dann im Ofen und im Kamin ein so starkes konzentriertes und artikuliertes Brausen verursacht und sich zu jener Klangwirkung verdichtet, die Walcker eben gehört habe und über die sie auch selber erschrocken seien. Das Experiment wurde nun im Beisein des Meisters wiederholt und hatte das gleiche Ergebnis wie zuvor. Damit war erwiesen, dass ein grundsätzliches Hindernis nicht bestehe. Auch die Abmessungen der im Kamin gestauten Luftsäule, deren Vibration eben den gewünschten Ton hervorrief, stimmten mit Walckers Berechnung und Maß der entsprechenden Pfeife genau überein. Also konnte es nur an Nebendingen liegen. Als solche erkannte Walcker den Unterschied in den verschiedenen Wandstärken des Kamins einerseits und der Pfeife andererseits. Er verdoppelte nun die Wandstärke der Pfeife und verband außerdem das ganze Register durch starke Eisenbänder untereinander, so dass die stark bewegte Luftsäule in der Pfeife den für die Tonbildung offenbar notwendigen Widerstand an der Umwandung fand, und nun quoll der gewünschte tiefe Ton in wunderbarer Fülle, Klarheit und gleichmäßiger Sicherheit aus der Pfeife, dass jeder Zweifel schweigen musste. Walcker berichtet darüber selbst folgendermaßen: „Nun endlich konnte ich auf die erneute Anfrage des Hofrats Andre: Was macht der Zweiunddreißigfüßer?' antworten:
Er ist fertig. So las ihn, hören!" war die Antwort. Ich fing bei dem höchsten Ton des Registers an und ging langsam die Skala herunter. Als ich nun die unterste Oktave ansprechen ließ, rief Andre ganz verwundert aus: Was, noch tiefer? Noch tiefer?' Schließlich kam er zu mir auf die Orgel und beglückwünschte mich in geradezu sprudelnder Weise zum Gelingen meines Werkes. Von da an fehlte es mir nimmer und nirgends mehr an den nötigen Empfehlungen. Auf die weitesten Entfernungen hin durfte ich Orgeln bauen, und alle trugen zur Befestigung meines nunmehr erworbenen guten Rufes bei."
Die in Frankfurt aus der praktischen Erfahrung gewonnene Erkenntnis war für Walcker ein Fingerzeig für noch weitere Verbesserungen im Orgelbau, besonders im Pfeifenbau. Er wusste nun, dass nicht nur der Inhalt der Luftsäule einer Pfeife für die Tonbildung, die Klangfülle und Klangreinheit entscheidend ist, sondern auch eine bestimmte Proportion zwischen dem Inhalt der Luftsäule und der Stärke der Pfeifenwand bestehen muss. Diese Erkenntnisse führten zu wesentlichen Verbesserungen im Orgelbau.
Walcker hatte von Abbe Vogler übernommen, die Orgel als ein Orchester von selbständigen Instrumenten anzusehen, das durch den Organisten dirigiert wird dadurch, dass er mit Hilfe der Traktur die Stimmen der einzelnen Instrumente zum Klingen bringt und auch ihre Tonstärke bestimmt. Umso wichtiger musste es ihm also sein, jede einzelne Stimme in möglichster Vollkommenheit zum Ausdruck zu bringen und sie auch steuern zu können. Für das erstere nun bedeutete jene Erfahrung von Frankfurt eine wesentliche Förderung. Das zweite hing von der Traktur ab, aber auch da hat Walcker durch die pneumatische und später auch die elektrische Steuerung bedeutende Fortschritte erzielt.
Ehe diese Linie weiter verfolgt wird, ist es notwendig, den eigenartigen und einfachen äußeren Hintergrund darzustellen, auf dem diese Leistung sich abhob. Als Eberhard Friedrich den Frankfurter Auftrag bekam, arbeitete er bereits mit etwa fünfzehn Gesellen, zu denen er in einem von der sonstigen Norm erheblich abweichenden menschlich sozialen Verhältnis stand. Es war, wenn man das Wort nicht pressen will, eine Art Bruderschaft mit stark religiösem Einschlag. Man arbeitete nicht nur zusammen, sondern man lebte zusammen. Die Gesetze der Harmonie, die für die zu erbauenden Orgeln galten, mussten ähnlich auch für die Arbeitsgemeinschaft derer wirksam sein, die diese Orgeln erbauten. Es musste eine innere Geschlossenheit herrschen, die fremde, störende Einflüsse fernhielt, sozusagen ein aufeinander abgestimmtes Orchester der Arbeit aus einer Mehrheit von verschieden begabten, aber zu gemeinsamem Dienst verbundenen Menschen. Dies schien ihm eine so zwingende Voraussetzung eines erfolgreichen Schaffens im Orgelbau zu sein, dass er auch die unter seiner Leitung mit dem Aufbau der Orgel in Frankfurt beauftragten Leute dort zu einer ebensolchen Lebensgemeinschaft zusammenschloss wie zu Hause und seine Schwägerin mitnahm, um diesen gemeinsamen Haushalt zu betreuen. Er wollte Leute um sich haben, die nicht nur um des Lohnes willen arbeiteten, sondern bei denen auch das Werk, die Aufgabe selber ansprach und um ihre Anteilnahme warb. Darum gab er auch morgens nach der gemeinsamen Andacht, die sich an das Frühstück anschloss, Gelegenheit, Fragen oder Anregungen, die der jeweiligen Arbeit galten, vorzubringen. Er wollte nicht nur die manuelle Leistung seiner Leute, sondern auch ihren Willen, ihren Ehrgeiz, ihre Verantwortung. Er verstand es ebenso, dieses Orchester zu meistern, wie er im Reich der Töne oder bei den besonders gearteten Menschen, mit denen er im Lauf des Lebens als Künstler in Berührung kam, sich durchzusetzen verstand. Er war sich der Gültigkeit seiner Legitimation in diesen vielfachen Beziehungen bewusst, aber er hütete sich auch vor jedem Missbrauch derselben, das letztere auch in Bezug auf die Gestaltung seines Betriebes. Natürlich dehnte er sich, brauchte größere Räume, mehr Vorräte und Arbeitsgeräte usw. Aber er nahm nach wie vor auch die Orgelpflege, die Orgelreparatur, den Umbau von alten Orgeln, den Bau von Kleinorgeln vollkommen ernst. Während er in Frankfurt das große Kunstwerk aufbaute, betreute seine Frau so gut als möglich das in Ludwigsburg anfallende Geschäft, berichtete ihm nach Frankfurt, holte Erkundigungen ein und gab an die zu Hause arbeitenden Gesellen entsprechende Anweisungen. Es war der Rahmen eines sich entwickelnden handwerklichen Betriebes. Auch rein geschäftlich stellte der Orgelbau mit seinem damals fast nomadenhaften Wanderbetrieb und der geographischen und verkehrstechnischen Unfertigkeit der Verhältnisse ungewöhnliche Anforderungen. Die Orgel nach Frankfurt musste auf dem Wasserweg befördert werden über Neckar, Rhein und Main. Der Neckarzoll betrug 14,09 Gulden, der Rheinzoll 10,37 Gulden, der Mainzoll 8,36 Gulden, und man musste mit diesen Bestimmungen vertraut sein. Schließlich war es ja der Meister, in dessen Gedächtnis diese Dinge registriert sein mussten.
Ein Kaufmann war Eberhard Friedrich allerdings sein Leben lang nicht, so groß auch seine Unternehmungslust und sein Drang ins Große und Weite war. Für einen Buchprüfer von heute müsste es ein Grauen sein, in den kleinen Taschenkalendern Walckers, die noch fast lückenlos vorhanden sind, den Ablauf der Geschäfte eines solchen Unternehmens an Hand der dort verzeichneten Einträge zu verfolgen. Man findet da kritische Bemerkungen über eine Predigt, die er unterwegs gehört hat, über ein Geschehnis der Zeit, das ihn bewegte, bemerkenswerte Vorgänge im Kirchenbau, die vielleicht zu einem neuen Orgelauftrag führen könnten, Adressen von Persönlichkeiten, die dabei nützlich sein könnten, oder auch Aufschriebe über pauschale Abmachungen mit der und jener Kirchengemeinde über die laufende Orgelkontrolle und Pflege ihrer Kirchenorgel. Es finden sich Notizen über da und dort erhaltene Abschlagszahlungen, Anzahlungen, Restzahlungen, finden sich Zeichnungen und Maße von Kirchen und Räume, in denen neue Orgeln erbaut werden sollen. Es stehen da Vermerke über Einstellung dieses und jenes Arbeiters, über den mit ihm vereinbarten Lohn usw., über Materialkäufe, Berichte über Berufsreisen, z. B. „mit dem Pferd nach Maulbronn, Brackenheim, Heilbronn, Ludwigsburg. Miete fürs .Pferd 3 Gulden." Und dann Angaben der Kosten des Verzehrs unterwegs. Man hat in diesen Taschenkalendern eine fesselnde und aufschlussreiche chronologische Aufzählung und Umschreibung dessen, was Eberhard Friedrich in fünfeinhalb Jahrzehnten eines arbeitsreichen Lebens leistete, aber es sind alles nur knappe Andeutungen. Die lebendige Fülle tritt einem erst durch die einzelnen Werke und die ihre Entstehung begleitenden Umstände in ihrem ganzen Reichtum entgegen. Nur in wenigen Fällen stößt man auch auf gewisse kaufmännische Differenzen, über die er mit seinen Gegenspielern gehandelt hat. Im Allgemeinen waren das aber für ihn Fragen zweiter oder dritter Ordnung. Im Vordergrund stand ihm der Auftrag, wie er ihn sah, das Werk, das seinen Namen tragen sollte und dem er sich verpflichtet fühlte. Ob es sich da um die richtige Disposition, um Beschaffung des besten Materials, um die zweckmäßige Gestaltung des Orgelwerkes selbst und um dessen richtige Placierung handelte, immer galt als entscheidendes Richtmaß der Satz aus den Frankfurter Verhandlungen: „Nicht eher würde ich es verlassen, als bis mir die Zufriedenheit Frankfurts und meine eigene innere Zufriedenheit zuteil geworden wäre."
Auch bei der Wahl des Standortes für seine Werkstätte sprach dieser Gesichtspunkt bei Eberhard Friedrich in späteren Zeiten zweifellos mit. Gewiss lockte am Anfang das Angebot der Stadt Ludwigsburg und des damaligen Landesfürsten auf langjährige steuerliche Vergünstigungen. Aber als die Stadt Frankfurt ihm nach Erstellung der Paulskirchenorgel ebenfalls verlockende Angebote machte für die Übersiedlung seines Betriebes nach Frankfurt, wäre das Ludwigsburger Angebot finanziell nicht entfernt mehr so ins Gewicht gefallen wie dreizehn Jahre früher. Er entschied zum zweiten Mal für Ludwigsburg, das ihm mit seiner Weiträumigkeit und etwas verträumten Romantik als der geeignetere Rahmen für sein kunsthandwerkliches Schaffen erschien gegenüber der lebhaften Handelsmetropole Frankfurt. Er traf diese Entscheidung, obwohl ihm die verkehrstechnischen Unzulänglichkeiten Ludwigsburgs nun schon mehrfach deutlich genug ins Bewusstsein traten, eben weil er kein Geschäftsmann, sondern ein Priester seiner Kunst war. Das war als erster Impuls für die Gründung des Orgelbauergeschlechts Walcker, für die künstlerische Qualität seiner Leistung ein hoher Vorzug, von dem auch nichts genommen wird, wenn man rückschauend feststellt, dass es in einem späteren Zeitpunkt ebenso zur ernsten Gefahr für den weiteren Bestand geworden wäre, wenn nicht aus derselben Wurzel auch die rettenden Kräfte, nur in einer anderen Mischung, erwachsen wären.
Schon während des Baues der Frankfurter Orgel musste teils aus geschäftlichen, teils aus familiären Gründen neuer Arbeitsraum beschafft werden. Als im Jahre 1828 der erste Sohn, Eberhard Heinrich, geboren wurde, mussten die Wohnräume von gewerblicher Beanspruchung befreit sein, aber auch die wachsende Zahl der Gesellen zwang zur Errichtung neuer Arbeits- und Schlafräume. Man wurde mit dem Bauen durch viele Jahre hindurch nie fertig. Auch die wachsende Ausdehnung des Materiallagers stellte ihr Anforderungen. Sie konnten freilich noch nicht aus der eigenen Finanzkraft des Unternehmens befriedigt werden, so dass Walcker sehr stark auf Kredit angewiesen war. Aber das Vertrauen in seine Kunst wie auf eine gute Weiterentwicklung des Betriebes war groß genug, um die notwendigen Geldquellen zu erschließen. Der Gewinn aus dem ersten großen Werk in Frankfurt brachte zudem auch hierin eine gewisse Erleichterung, So konnte man es wagen, einen großen, verschiedene Stockwerke hohen Orgelsaal einzubauen, der mit seinen Spitzbogenfenstern wie eine Kirche wirkte und in dem nunmehr jedes Orgelwerk fertig montiert und probiert werden konnte, ehe es die Werkstatt verließ. Das erhöhte einerseits die Zuverlässigkeit der gelieferten Werke und kürzte andererseits die Zeit der Aufstellung der Werke an Ort und Stelle ganz wesentlich ab. Es befruchtete auch den ganzen Arbeitsprozess in seinen einzelnen Spezialarbeiten, wenn jeder seine Teilarbeit eingebaut sehen konnte in den ganzen Organismus der Orgel, wenn er ihre Funktionen beobachten und so auch ihre Bedeutung beurteilen konnte. Es ist an anderer Stelle das Bild vom Orchester der Arbeit auf die Arbeitsgemeinschaft im Orgelbau angewendet worden. Unter dem Eindruck des Zusammenklangs der Instrumente dieses Orchesters findet der einzelne besser als durch alle theoretische Erläuterung, auf was es bei ihm und seiner Arbeit ankommt, wenn es zum vollen Akkord, zur reinen Harmonie kommen soll. Mit dieser Erweiterung und Bereicherung seines Betriebes konnte Walcker noch um ein Erhebliches sicherer sich auf das weite Meer des internationalen Orgelbaues hinauswagen.
Die erste Reise ging nach Petersburg, von wo ihn die Verwaltung der Petrikirchengemeinde im Jahre 1836 berief, um mit ihm mündlich auf Grund eigener vorgelegter Pläne über den Auftrag einer neuen Orgel für diese Kirche zu verhandeln. Der glänzende Ruf der Orgel in der Paulskirche in Frankfurt hatte hier schon gewirkt, der Eindruck des Meisters und seiner Pläne taten noch das Ihre, und schon nach kurzer Zeit konnte Walcker einen stolzen Auftrag nach Hause tragen. Die Fahrt war kein Vergnügen; sie ging bis Lübeck und zurück mit Pferdepost, von Lübeck nach Petersburg mit dem Segelschiff, aber sie war beflügelt von dem starken Bewusstsein des Dienstes an einer großen Sache.
Aus dem Jahre 1837 konnte man in einem Brief nach Stuttgart wegen der Stiftskirchenorgel lesen, dass Walcker auf einer Reise u. a. Breslau, Weimar und Hamburg besucht habe. Er benützte dazu einen eigenen Reisewagen, der mit einem Pferd bespannt war. Dabei war er zugleich Kutscher, Akquisiteur und Künstler, führte Unterhaltungen mit hervorragenden Organisten in Breslau und Weimar, besichtigte bedeutende Orgeln in Hamburg und hörte ihr Spiel, und man merkt es an der Art der Berichterstattung, wie er auf seiner einsamen Fahrt die Eindrücke von dem allem verarbeitete und sie dann erst in sich klärte. Wir sind wohl kaum in der Lage, uns nur eine annähernd zutreffende Vorstellung von den Anstrengungen und Beschwerlichkeiten zu machen, die Reisen von solcher Ausdehnung in jener Zeit mit sich brachten. Es gehörte ein ungewöhnliches Maß von Beweglichkeit und Energie dazu, um ein solches Lebensjahrzehntelang durchzuhalten.
Zu Hause war das Werk in flottem Gang mit Neubauten, Umbauten und Reparaturen. Daneben aber gab es immer auch Auseinandersetzungen mit Organisten, Orgelbauern und Interessenten über die Neuerungen im Orgelbau. Man musste zu Walcker und seinem Werk so oder so Stellung nehmen, einfach übersehen ließ er sich nicht und konnte man ihn auch nicht. Dafür war er schon zu bekannt und fühlte sich aufgerufen. Er wollte es sich nicht bequem machen, aber er hielt es auch anderen gegenüber nicht für das Wichtigste, bequem zu sein. Er war ein Kämpfer, und umso unerbittlicher, wo er nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie für sich kämpfte, sondern für eine ideelle Sache. Dafür bieten u. a. die Verhandlungen über den Umbau der Stuttgarter Stifskirchenorgel ein sehr anschauliches Beispiel.
Am l. Mai 1840 lag die Orgel für Petersburg fertig verladen in zwei großen Neckarkähnen, die, mit je 400 Zentnern belastet, in dem nahen Neckarweihingen zur Abfahrt bereit waren. Was heute auf einer wesentlich höheren technischen Stufe der Binnenschifffahrt wieder allseits erstrebtes Ziel ist, die Schiffbarmachung des Neckars bis nach Cannstatt, das war mit den technischen Mitteln von damals im Jahr 1840 schon einmal Wirklichkeit. Freilich, es war alles viel primitiver, anstrengender und gefahrvoller. Man konnte auch nicht einfach die Ware auf das Schiff geben, sondern musste ihr menschliche Begleitung mitgeben, um sie in den mancherlei Fährlichkeiten der Fahrt bis zum Meer zu betreuen und dann die Umladung auf das Seeschiff—ein Segelschiff—im Hafen von Amsterdam zu überwachen und zu fördern. Vier im gesamten Orgelbau gut durchgebildete Leute wurden von Walcker bestimmt, mit nach Petersburg zu reisen und unter seiner persönlichen Leitung dort den Aufbau der Orgel durchzuführen. Sie mussten auch die Bestandteile der Orgel auf dem Wasserweg begleiten und sich in besonders bedrohlichen Lagen um dieselben kümmern. Einer davon hat in einem Tagebuch über die Reise berichtet, dessen Inhalt heute noch vorliegt. Es war demnach eine ebenso beschwerliche und anstrengende wie auch gefahrvolle Sache, zunächst einmal bis zum Meer. Das geht schon daraus hervor, dass bei der Umladung auf das Seeschiff in Amsterdam von der Neckarschiffsgesellschaft 400 Gulden auf der Fahrt entstandene Transport- und Wasserschäden anerkannt wurden. Bemerkenswert sind die ausgezeichnete Beobachtungsgabe, die in dem Bericht zum Ausdruck kommt, und die sprachliche Gewandtheit, mit der er verfasst ist, die hellen Augen, die wachen Sinne und die Vielseitigkeit der Interessen, die dem Berichterstatter eigen waren und die der Schule jener Zeit ein sehr gutes Zeugnis ausstellen. Man kann schon aus diesen Aufzeichnungen schließen, dass es sich auch bei den Orgelbaugehilfen um überdurchschnittliche Qualitätsarbeiter handelte. Die Reise dauerte vom l. Mai bis 27. Juni, aber die wertvolle Fracht kam schließlich doch in der Hauptsache gut ans Ziel, so dass mit der Aufbauarbeit sofort begonnen werden konnte.
Dass diese Arbeit unter völlig andersartigen Verhältnissen, bei vollständiger Sprachfremdheit, ungewöhnliche Schwierigkeiten bot, liegt auf der Hand. Schon das ganze alltägliche Leben war den' Schwaben ungewohnt, aber auch das Ritual eines russischen Gottesdienstes, die sozialen Zustände, die Wohn- und Ernährungsverhältnisse, die Arbeitsweise und Arbeitstechnik, alles war fremd, zum Teil unheimlich, zum Teil unsicher. Walcker erzählt, dass er den Gürtel, in dem er seinen Geldvorrat aufbewahrt hatte, zum ersten Mal in Ludwigsburg wieder vom Leib gebracht habe. Er und seine Gehilfen waren dort auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, obgleich die Kirchenleitung bemüht war, den Orgelbauern an die Hand zu gehen, so gut es ihr möglich war, und ihnen auch den Zugang zu allen Sehenswürdigkeiten, Theatern usw. zu öffnen. In die Zeit dieses Petersburger Aufenthalts fiel auch der Einzug der Braut des damaligen Thronfolgers, der Prinzessin Marie von Hessen-Darmstadt, der mit russisch-orientalischem Pomp vor sich ging und auf die deutschen Zuschauer natürlich einen besonders starken Eindruck machte. Man war in jener Zeit von Württemberg aus und zumal von Ludwigsburg her auch allerlei gewöhnt, aber mit der Prachtentfaltung russischer Souveräne konnte es sich doch nicht messen. Auch sonst war alles so ganz anders, widerspruchsvoller, willkürlicher, sprunghafter. Reichtum und Armut, Herrschermacht und Volksuntertänigkeit in schroffem Gegensatz nebeneinander. Auch in geschäftlichen Dingen galt nicht die strenge und durchsichtige Ordnung des Rechts und des Vertrages, sondern vielfach noch eine willkürliche Unbekümmertheit und Freiheit. Den Orgelbauern gegenüber wirkte sich das in der Hauptsache nach der angenehmen Seite aus. Ihre Leistungen wurden nicht nur rühmend anerkannt, sondern auch gut und mit lauter blinkendem Gold bezahlt. Walcker selbst erhielt als Ehrengabe einen silbernen Pokal und außerdem noch einen beträchtlichen Ehrensold, die Gehilfen je ein Festgeschenk und eine silberne Tabakdose. Sie hatten sich alle mit russischem Pelzwerk für Kopf und Körper, für Hände und Füße gut ausgestattet und brachten auch Pelzwerk als Geschenke mit neben der mit Gold gefüllten Geldbörse. Nur einmal stockte es, als Walcker sich bei der Auszahlung eines Wechsels um den landesüblichen Bakschisch, die stillschweigende Provision für den auszahlenden Beamten, glaubte drücken zu können, weil ihm das gegen den Strich ging. Als er aber darauf verzichtete, in Russland den Erzieher zur geschäftlichen Sauberkeit zu spielen, ging auch das glatt vonstatten. Die Heimkehr musste, da sie in den Winter fiel, über den Landweg gehen. Sie sollte am 19. November beginnen, und ein Lohnkutscher — ein Deutscher — hatte abgemacht, dass er die vier Personen in dreißig Tagen nach Ludwigsburg bringen wollte. Er spannte drei angeblich besonders rasche und ausdauernde Pferde ein, aber er konnte sein Versprechen nicht halten, die Unbilden der Natur und des russischen Winters waren stärker. Am 23. Dezember kamen die vier aber doch wohlbehalten in Ludwigsburg an, nachdem sie mehrmals unterwegs den Kutscher und die Pferde gewechselt hatten. Der fünfte Mann musste zur Pflege der Orgel vorläufig in Petersburg bleiben.
Der künstlerische Ruhm, den Walcker und seine Leute mit der von ihnen erbauten Orgel in Petersburg davontragen durften, war überwältigend. Man muss sich die dortigen Menschen mit ihrer geradezu ekstatischen Verzückung, zu der sie fähig sind, vorstellen, um die Wirkung der Klangpracht einer solchen modernen Orgel mit fünfundsechzig klingenden Registern ermessen zu können. Über die Einweihung der Orgel heißt es in dem Bericht des Arbeiters u. a.: „Die besten Musiker, Sänger und Sängerinnen der Stadt versammelten sich in der Kirche. Vor der Predigt wurden zwei Chöre aufgeführt mit Musik und Orgelspiel. Dann hielt der Pfarrer am Altar eine Rede, worauf erst das eigentliche Kirchenlied gesungen wurde. Nach der Predigt wurde ein Chor aus der .Schöpfung' vorgetragen. Während der ganzen Feierlichkeit brannten mehr als 500 Wachslichter. Die Kirche war so gedrückt voll, dass nicht einmal zum Stehen noch ein Mensch Platz gefunden hätte."
Es war die erste Walckersche Orgel in Russland, und es gilt von ihr wie von jeder anderen im Ausland erklingenden Orgel, dass unter ihren Klängen bei ihren Hörern eine Stimmung aufkommt, wie sie in der biblischen Pfingstgeschichte in Worte gefasst ist: „Wie hören wir sie denn, ein jeglicher in seiner Sprache, die großen Taten Gottes reden!" Die Sprache der Musik ist grenzenlos, sie spricht jeden in seiner Sprache an, aber sie ist auch zeitlos, vom Ewigen ebenso erfüllt wie vom Gegenwärtigen. Ich habe das in vielen außerdeutschen Kirchen, Festhallen usw., zuletzt beim Klang einer Walcker-Orgel in Barcelona beim Besuch eines Pilgerzuges aus Spanisch-Marokko erlebt und werde diesen geradezu überwältigenden Eindruck nicht vergessen. Wer solche Instrumente bringt, haftet anders im Bewusstsein der Völker, als wer nur Opium oder Wellblech oder auch Autos und Maschinen bringt. Es ist darum vollkommen berechtigt, auch im Gedächtnis der heutigen Zeit festzuhalten, was es für die Stellung Deutschlands in der Welt bedeutet, dass vor mehr als hundert Jahren Männer wie Eberhard Friedrich Walcker und seine Leute, aller Unsicherheit und Gefahr, aller Widerwärtigkeit solchen Nomadentums zum Trotz, hinausfuhren in fremde Länder, um dort solche Denkmale deutscher Kulturleistung zu erbauen. Es gehörte eine großzügige Lebensauffassung und ein reiches Menschentum dazu, um das alles in sich zu vereinen, was da an Verzicht und Leistung, an körperlicher Anstrengung und künstlerischer Gestaltung, an Primitivität und hoher Kultur jedem Einzelnen zugemutet wurde, die wir uns heute noch zum Vorbild nehmen können.
Schon auf der Heimfahrt wurden in Riga für eine Kirche und bei einem Gutsbesitzer in der Nähe von Riga für eine Hauskapelle weitere Orgelbauaufträge in Russland vorbereitet, die bald zum Zuge kamen. Aber auch zu Hause war das Geschäft gut gediehen während der acht Monate, die Walcker in Petersburg festgehalten war. Jede neue Orgel brachte auch neue Aufgaben und führte zu neuen Einsichten. So wurde man durch die Erfahrungen mit der Petersburger Orgel darauf aufmerksam, dass manche Teile der Orgel stark unter atmosphärischen Einflüssen stehen. Walcker wurde dadurch veranlasst, der Einführung der Kegellade und deren Ausgestaltung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken und die im Wege stehenden Bedenken einfach durch das praktische Beispiel zu lockern und schließlich ganz zu überwinden. Der spätere Alleininhaber der Firma E. F. Walcker, Dr. Oscar Walcker, erzählt, dass sein Großvater und dessen älteste Söhne den Standpunkt vertreten haben, man sei beim Bau einer Orgel überhaupt nie in dem Sinne fertig, dass nicht noch Wünsche blieben. Das ging so weit, dass in einer ganzen Anzahl von Abnahmegutachten vor der Übernahme der Orgel durch den jeweiligen Auftraggeber ausdrücklich hervorgehoben wird, Walcker habe mehr geleistet, als er vertraglich verpflichtet gewesen wäre; übrigens ein Ruhm, den sich die Firma bis in die heutige Zeit hinein erhalten hat.
Wenn sich während des Baues einer neuen Orgel eine Verbesserung nahe legte, so führte er sie aus, auch wenn er nicht entsprechend dafür entschädigt wurde; oder wenn er fand, dass etwas anderes, als vereinbart war, dem Zweck oder Raum, dem die Orgel dienen, in den sie hineingestellt werden sollte, besser entsprach, die Leistung vollkommener machen würde, so führte er es so aus, ohne sich zunächst um die Mehrkosten zu kümmern. Die Werbekraft seines Namens drang auf diese Weise immer weiter über Deutschlands Grenzen hinaus, ja sie eroberte allmählich die ganze Welt. Im Jahre 1842 konnten in Estland zwei Orgeln aufgestellt werden, die eine in Reval in der Olaikirche mit fünfundsechzig Registern, die andere in dem Dorfe Kegel mit zwölf Registern. Diese letztere Orgel wurde erstmals mit der Kegellade ausgestattet und damit dieser wesentlichen Verbesserung der Weg gebahnt, wie das folgende Beispiel zeigt.
 

Orgelbauer
Stuttgart-Stiftskirche